Was allein das Herz erkennt (German Edition)
und Konzentration dabei waren. Er verbesserte Grifftechnik und Körperhaltung. Er sprach über Pässe und Verteidigung und beantwortete ihre Fragen altersgemäß und einfühlsamer als die jedes versierten Reporters.
Dann verließen die Jugendlichen das Eis, um Martin und Ray zuzusehen, die ihnen Schusstechniken zeigten. Martins Herz klopfte, als er über das Eis raste und darauf wartete, dass Ray seinen ersten Schlagschuss abfeuerte. Die beiden waren seit Jahrzehnten aufeinander eingespielt, hatten auf dem Lac Vert begonnen, im Dezember, sobald das Eis klar war.
Peng! Der Puck prallte wie eine Kanonenkugel gegen seinen Stock und Martin feuerte mit voller Wucht zurück. Die beiden Freunde fuhren vorwärts und rückwärts, schnell wie der Blitz, spielten sich abwechselnd Pässe zu, landeten atemberaubende Schlagschüsse ins Netz, schickten den Puck auf den Weg und jagten ihm nach. Die Jungen lachten und schrien. Martin kannte Rays Stil so gut, dass er kaum hinschauen musste. Er musste nur den Schläger ausstrecken und den Puck annehmen. Dann wirbelte er herum und Ray hatte ihn.
Augen im Hinterkopf …
Sein Vater, der sich über Martins Rundumsicht gewundert hatte, über seine geradezu übernatürliche Fähigkeit, Pässe von hinten vorauszuahnen, hatte die Theorie entwickelt, sein Sohn müsse Augen im Hinterkopf haben.
Er kann blind Schlittschuh laufen , hatte sein Vater einmal gesagt, was als großes Kompliment gemeint war. Seine Sinnesorgane waren derart geschärft, dass er seinen Gegner erspürte, ohne ihn sehen zu müssen, und blind ins Tor traf.
»Wichtig ist, dass ihr ständig übt«, schärfte Martin den Jungen ein, nachdem er nach einem perfekten Pass von Ray locker ein Tor geschossen hatte. »Sucht euch einen Freund, einen richtigen Kumpel, und nehmt jede Gelegenheit wahr, um miteinander zu üben.«
»Kumpel«, sagte Ray über seine Schulter, als er an Martin vorüberfuhr, auf der Suche nach seinem Sohn.
»Jede Gelegenheit.« Martins Stimme füllte abermals das Stadion, als alle verstummten, um ihm zuzuhören. »Andere fahren vielleicht schneller Schlittschuh oder schießen besser. Aber wenn ihr euren Traum im Auge behaltet, wenn ihr jeden Tag zwei Stunden opfert, wenn ihr euch wirklich konzentriert, wird Eishockey euch irgendwann in Fleisch und Blut übergehen. Ihr habt nichts zu verlieren, sondern könnt nur gewinnen, nämlich einen guten Freund.«
Martin hielt inne, ihm war bewusst, dass Ray ihn vom Spielfeldrand beobachtete.
»Und wenn ihr bei jeder Gelegenheit übt, wenn ihr ein Gespür dafür entwickelt, wo euer Platz ist – in der Welt, auf dem Eis, im Verhältnis zu eurem Puck, eurem Freund und jedem anderen Menschen, dem ihr begegnet –, dann entwickelt ihr eines Tages vielleicht die Fähigkeit, blind zu spielen.«
»Was?«, rief jemand.
»Blind, mit Augen im Hinterkopf«, sagte Martin und starrte durch den dunklen Nebel in die jungen Gesichter.
*
Der SkyDome war brechend voll, das Baseballspiel spannend und die Toronto Blue Jays schlugen die Chicago Cubs 4:2. Von dort aus ging es weiter zur Hockey Hall of Fame. Sie befand sich im Herzen von Toronto, an der Ecke Yonge und Front Street, in einem imposanten Jugendstil-Gebäude, das früher eine Bank beherbergt hatte.
Anfangs wurde Martin von Touristen umringt, die um ein Autogramm baten. Einige wollten unbedingt mit ihm fotografiert werden. Obwohl er ihnen den Gefallen tat, war seine Körperhaltung so steif und seine Miene so düster, dass er die meisten bald abschreckte.
»Alles in Ordnung?«, fragte May.
»Es ist eine Sache, mich zu behelligen, wenn ich alleine bin. Aber wenn ihr beide bei mir seid, möchte ich in Ruhe gelassen werden.«
»Mir gefällt es«, meinte Kylie.
Sie besichtigten die ›Torschützen-Arena‹, wo sich die Besucher mit den größten Eishockeyspielern aller Zeiten messen konnten. Martin war wortkarg, als er May und Kylie durch die Ausstellungsräume führte und ihnen die Fotos, Archive und das Handwerkszeug seines Metiers zeigte: ausgemusterte Trikots, Schläger und Schlittschuhe berühmter Spieler. In der Ausstellung wurde auch vorgeführt, wie die Masken gefertigt wurden. Vor der Honored Members Wall, wo die Namen berühmter Spieler verewigt waren, blieben sie stehen, um die Glasplaketten anzuschauen.
»Steht dein Name auch da oben?«, fragte Kylie.
»Nein.«
»Noch nicht«, sagte May lächelnd und hakte sich bei ihm unter.
»Ehrenmitglied kann man erst werden, wenn man sich drei Jahre im Ruhestand
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