Was allein das Herz erkennt (German Edition)
zwischendurch immer wieder Ruhepausen einlegen. Beim Anpflanzen des Rosengartens und Wegräumen der Steine sah Martin hervorragend. Er konnte so tun, als sei alles in bester Ordnung. Aber hier, im Eisstadion, wo jede Bewegung präzise sein musste und jeder Schatten etwas zu bedeuten hatte, befielen Martin plötzlich Beklemmungen.
»Du hast es dieses Jahr tatsächlich geschafft!« Ray schüttelte ihm die Hand, als er die Umkleidekabine betrat.
»Letzten Sommer hatte ich ein bisschen viel um die Ohren, mit Heiraten und so.«
»Kaum zu glauben.«
»Dass mich jemand haben wollte oder dass ich häuslich geworden bin?«
»Beides, mein Freund«, lachte Ray.
»Jetzt reicht’s aber.«
»Ich hatte schon befürchtet, dass du dieses Jahr aus einem anderen Grund wegbleiben könntest. Noch fünf Sekunden, die Uhr tickt …«
»Es reicht, sagte ich.« Martin schloss die Augen. Es spielte keine Rolle, dass Ray scherzte und sie bereits ausgiebig über das Debakel im letzten Spiel palavert hatten. Martin wollte nichts mehr davon hören.
Als sie auf das Eis kamen, brach die kleine Schar der Zuschauer in Jubel aus. Martin hatte eine Bedingung für das Nachwuchstraining gestellt, an die sich alle strikt zu halten hatten: keine Presse, Kameras oder Fans, die Eintritt zahlten. Die Tribünenplätze waren nur teilweise besetzt, mit Eltern, Großeltern, Freunden der Familie und ein paar anderen. Das Licht war sehr hell. Martin blinzelte, Dunkelheit sammelte sich in der Mitte seines Blickfeldes.
Während er sich auf dem Eis warm lief, bildete sich Nebel und verschwand. In einem Moment war seine Sicht klar, im nächsten war sie getrübt, als würde er durch einen Filter blicken. Er blinzelte mehrmals, als wäre ihm ein Staub- oder Sandkorn in die Augen geraten. Die Jungen feuerten ihn beim Laufen an und Martin wusste, dass er seine Bewegungen blind beherrschte.
»Pass auf!«, sagte Ray, als Martin beinahe über seinen Stock gestolpert wäre.
»Entschuldigung.«
Die Jugendlichen waren in fünf Zehner-Riegen eingeteilt worden: Blau, Rot, Grün, Gelb und Orange. Sie versammelten sich auf dem Eis, und Martin hielt eine kleine Ansprache und bedankte sich für ihr Kommen. Während seiner Rede war es mucksmäuschenstill. In dem riesigen Kuppelbau, der einer Eishöhle glich, hörte Martin den Widerhall seiner eigenen Stimme.
»Ich weiß, warum ihr gekommen seid«, sagte er, und obwohl er leise sprach, dröhnte ihm seine Stimme in seinen eigenen Ohren. »Jeder von euch, gleich ob ihr in Saskatschewan, Quebec oder hier lebt, in Toronto. Ihr seid gekommen, weil ihr einen Traum habt.
Und dieser Traum lässt euch nicht los«, fuhr Martin fort. »Im Juli, wenn es heiß draußen ist und eure Freunde im See baden gehen, träumt ihr vom Winter, wenn es friert, wenn ihr die Schlittschuhe anschnallen und aufs Eis hinaus könnt. Abends, wenn ihr eigentlich schlafen solltet, träumt ihr davon, in aller Herrgottsfrühe von allein aufzuwachen, als Erste auf dem Eis zu sein, wenn es noch glatt und schwarz ist.
Wenn ihr in Nova Scotia oder Vancouver Island lebt, wo es Salzwasser in rauen Mengen gibt, schaut ihr auf den Atlantischen oder Pazifischen Ozean hinaus und träumt, er sei zugefroren, ein riesiges Spielfeld, mit den Klippen als Tore. Wenn ihr hier in Toronto wohnt, mitten in der Großstadt, träumt ihr, dass ihr Schlüssel zum Eisstadion besitzt, zum Air Canada Centre oder besser noch, zum Maple Leaf Gardens. Dass ihr besser seid als jeder andere, der hier jemals gespielt hat – Wayne Gretsky oder Mario Lemieux – Ray Gardner, mit Spitznamen die ›Rakete‹, eingeschlossen.«
Alle jubelten und lachten, und Martin hatte einen Kloß im Hals vor Rührung. Die Jugendlichen waren außer Rand und Band, konnten es kaum erwarten, mit Ray und ihm zu spielen.
Beim Anblick der aufgeregten Menge dachte er daran zurück, wie er selbst in diesem Alter gewesen war. Er erinnerte sich, wie er davon geträumt hatte, einen Eishockeyspieler aus Fleisch und Blut kennen zu lernen. An seine Träume, mit einem Profi zu spielen, von seinem Vater trainiert zu werden. Mit seinem großen Vorbild zu spielen, Serge Cartier.
»Und deshalb sollten wir alles tun, um unsere Träume zu verwirklichen«, sagte er mit leiser, belegter Stimme. »Jetzt. Also: Los geht’s.«
Die Jungen fuhren in einer Linie über das Eis, übten schnelle Wendungen und Stocktechniken, unter der Anleitung von Martin Cartier und Ray Gardner. Martin erzählte ihnen, wie wichtig Selbstdisziplin
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