Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Perry, wie schon so oft sah sie seinen Leichnam vor sich, wie er am Geäst des Baumes hing, im Wind hin und her schaukelte. Seine blanken Knochen waren schneeweiß gewesen, die Überreste seiner Kleidung und Haut und Muskeln braungrau. Kylie hatte indessen nur einen Mann gesehen, der sie anflehte, abgeschnitten zu werden. Seine Lippen hatten sich bewegt, seine Augen waren wild vor Verzweiflung.
Die Polizei war gekommen. Während sie ihre Fragen beantwortete, hatte Kylie Richard Perrys Leichnam im Auge behalten. Als sie mit den Aufnahmen vom Fundort fertig waren, hatte sich der Leichenbeschauer dem Baum näherte, entschieden, wie er vorgehen sollte, eine Leiter angelegt und war auf den Ast geklettert. Mit einer riesigen Zange hatte er das dicke Seil glatt durchtrennt und eine Gruppe von Leuten hatte die Leiche von unten aufgefangen.
»Danke«, hatte der Mann Kylie zugerufen. »Danke, dass du mich befreit hast.«
Kylie war in die Rumpelkammer gekommen, weil sie etwas suchte. Sie hatte gehört, wie ihre Mutter Martin nach einem alten Bild gefragt hatte, und sie wusste, wo es war. An einem Regentag im letzten Sommer hatte sie das Haus erkundet und mehrere Dinge gefunden, die jemand hier versteckt hatte. Eine silberne Babytasse, einen Puppenwagen, einen Stapel Kinderbücher und ein Stickbild.
Kylie kletterte an dem Regal hoch, als wäre es eine Leiter, bis sie das oberste Brett erreichen konnte. Dort, in der hintersten Ecke, ertastete sie den Rahmen. Sie schob ihre Finger Stück für Stück weiter nach hinten, bekam ihn zu fassen und zog ihn vor. Sie klemmte sich das Bild unter den Arm und sprang auf den Boden.
Das Glas war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Kylie wischte sie weg und betrachtete das Bild. Der Hintergrund bestand aus weißem Musselin, vom Alter vergilbt wie die antiken Brautgewänder im Bridal Barn. Er war in einen Rahmen gespannt und mit winzigen blauen Kreuzen bestickt; zusammengenommen ergaben die Kreuzstiche zwei Tierjunge: ein Lämmchen und ein Leopard, die Seite an Seite schliefen.
Rund um die Außenkante stand ein Spruch. Kylie hatte erst im letzten Jahr lesen gelernt, aber dieses Jahr ging es schon ganz flott: »Der Wolf wird bei dem Lamm weilen und der Leopard bei dem Böckchen lagern … und ein Kind wird sie führen.«
Kylie wusste nicht, was das bedeuten sollte, deshalb las sie die Worte noch einmal. Da sich immer noch Staub auf dem Glas befand, wischte sie es gründlicher ab. Unter dem Staub war noch etwas anderes, das funkelte wie Glimmer. Er blieb überall an ihren Finger kleben, so dass sie schimmerten.
Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie hatte das Gefühl, dass gleich etwas Aufregendes passieren, dass Natalie auftauchen würde. Sie spürte ihre Gegenwart in der verborgenen Kammer und wusste irgendwie, dass der Glimmer ein Beweis war, dass es sie gab.
»Natalie, zeig dich, ich möchte dich sehen.«
Thunder winselte draußen vor der Tür, flehte Kylie an, herauszukommen.
»Ich weiß, dass du hier bist.« Kylie blickte abermals das Bild an, las den Spruch immer wieder. Es war eine Botschaft, und Natalie hatte gewollt, dass sie von ihr gefunden wurde, dessen war sie sich sicher. Sie hatte geschlafen und im Traum den Drang verspürt, hierher zu kommen und nach dem alten Bild zu suchen.
»Bist du das Kind?«, fragte sie laut.
Du bist es , hörte sie eine Stimme. Du musst sie zusammenbringen.
Kylie fuhr herum. Sie sah niemanden.
Ein Rascheln über ihrem Kopf ertönte und sie blickte hinauf. Sie sah eine Phalanx von Fledermäusen, die kopfunter in den Dachsparren hingen und sie beobachteten. Kylie zitterte vor Angst und Thunder begann wieder zu bellen. Plötzlich hörte Kylie Schritte auf den Treppenstufen.
»Kylie?«, hörte sie ihre Mutter rufen.
»Natalie ist hier, ich weiß es«, rief Kylie.
»Sie träumt wieder«, hörte sie Martin sagen. »Schlafwandelt.«
»Natalie«, flüsterte Kylie und ließ sich von ihrer Mutter auf die Arme nehmen.
Was immer auch da gewesen sein mochte, war mit einem Mal verschwunden. Thunder hatte aufgehört zu bellen, blickte friedvoll und behaglich auf das offene Fenster. Sein Fell glänzte mit seinen Augen um die Wette.
Ihre Mutter trug sie zum Fenster. Sie standen da, atmeten tief die frische Luft ein, und Kylie spürte, wie das Engegefühl von ihr wich; es kam ihr vor, als wären die letzten Minuten nur ein Traum gewesen. Die Berge erhoben sich majestätisch rund um den See. Das Mondlicht tanzte durch die Bäume, fiel auf das silberne
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