Was allein das Herz erkennt (German Edition)
selbst dabei gewesen …«
May nickte.
»Sie muss die Geschichte irgendwann einmal von mir gehört haben.«
»Vermutlich.«
»Aber ich wüsste nicht, wann.« Dann blickte er sie an. »Hat sie sich inzwischen beruhigt, ich meine, nach dem Besuch in der Universität?«
»Sie ist immer noch ziemlich durcheinander, weil sie so viele Karten falsch angesagt hat. Von fünfzig hatte sie nur eine richtige.«
»Was bedeutet das?«
»Wie es scheint, hat sie ihre Gabe verloren.«
»Ich weiß nicht.« Er starrte vor sich hin. »So wie sie über meinen Vater gesprochen hat, als wäre sie dabei gewesen …«
»Sie hat oft geträumt, dir zu helfen, wieder einen Weg zu ihm zu finden«, sagte May.
»Das wäre kein Traum, sondern ein Albtraum.«
»Für sie war es wichtig. Für mich auch.«
»Ich weiß.«
»Ich bin ein Fluss«, sang Kylie laut.
»Sei vorsichtig, Liebes«, sagte May warnend und ging zu ihr hinüber. »Geh nicht zu nah heran.«
Ihre Stimmen entfernten sich, befanden sich links von ihm. Martin trat einen Schritt zurück und trocknete sich das Gesicht. Er blinzelte, aber alles war dunkel in dieser unterirdischen Kammer. Er lehnte sich mit dem Rücken an das Felsgestein und spürte das Kondenswasser.
»Hier ist es glitschig!«, rief Kylie erschrocken.
»Nimm meine Hand«, sagte May.
»Mommy!«, schrie Kylie, Panik in der Stimme.
Martin machte einen Satz in die Richtung, aus der ihre Stimmen kamen. Seine Hände griffen ins Leere. Die Planken schienen hier zu enden, und er prallte gegen das Geländer. Das Tosen des Wassers wurde lauter, als trennte ihn nur noch ein Schritt von den Wasserfällen. Es donnerte und dröhnte in seinen Ohren, so laut, dass er Mays und Kylies Stimmen nicht mehr hören konnte. Gischt bedeckte sein Gesicht und je mehr er sich die Augen wischte, desto schlechter wurde seine Sicht.
Er stieß gegen eine Ecke, gegen die Wand, rief ihre Namen. Direkt in der Mitte seines Blickfeldes befand sich ein schwarzes Loch. Wohin er auch schaute, er sah nur noch das schwarze Loch, das an den Außenrändern verschwommen und trübe war, und es schien, als wären May und Kylie in seinem Sog verschwunden. Er spürte, wie ein Schluchzen in seiner Brust aufstieg und ihn erfüllte, bis er vor lauter Panik zu explodieren drohte, aus Angst, in der Falle zu sitzen und nicht fähig zu sein, die einzigen beiden Menschen zu retten, die er liebte.
Er war mutterseelenallein, während die ganze Welt ringsum aus den Fugen geriet. Dann spürte er, wie May seine Hand ergriff.
»Es ist alles gut, wir sind hier«, flüsterte sie. »Uns ist nichts geschehen.« Er spürte ihren Atem auf seiner Haut, ihre Wange an seiner, spürte, wie sie ihren Arm um seine Taille schlang. Er versuchte, der Panik Herr zu werden, aber er wusste, dass sie das Grauen, das ihn ergriffen hatte, in ihrem eigenen Körper spürte.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, flüsterte er.
»Das wird nie geschehen.«
22
D ie Heimfahrt zum Lac Vert schien endlos. Martin weigerte sich, über die Geschehnisse an den Niagara-Fäl-len zu sprechen, und die Fahrt verlief buchstäblich schweigend.
Als sie zu Hause ankamen, leerten sie als Erstes den Briefkasten, der vor Post überquoll. Dann holten sie Thunder aus der Tierpension ab, der am liebsten schnurstracks zurückgekehrt wäre: Er hatte sich in eine französische Pudeldame im Nachbarkäfig verliebt und bellte sich in der ersten Nacht zu Hause das Herz aus dem Leibe. Bis zum Morgengrauen hatte er ein Loch unter der Fliegengittertür ausgebuddelt und sich aus dem Staub gemacht.
Ein Nachbar, der zur Arbeit fuhr, entdeckte ihn, wie er an der Straße entlangrannte, und brachte ihn zurück. Kylie war überglücklich und May fand ein Stück Wäscheleine, mit der sie ihn an der Veranda festbanden. Sie saß mit Martin auf den Stufen und gemeinsam sahen sie zu, wie der Hund an seinem Halsband zerrte und vor Liebeskummer heulte.
»Er ist verrückt nach ihr.« Martin drückte Mays Schulter. »Ich weiß, was das für ein Gefühl ist.«
»Flirte nicht mit mir, solange du mir nicht sagst, was passiert ist.«
»Jetzt sofort? Komm schon, Kylie spielt im Pavillon und wir sind alleine. Komm mit nach oben, ja? Hast du Lust?«
»SAG MIR, WAS LOS IST! Ich weiß, dass du mich an den Wasserfällen nicht sehen konntest.«
»Ich hatte ein kleines Problem mit meinen Augen, c’est vrai. Aber inzwischen ist es besser geworden. Es liegt daran, dass ich ständig unterwegs bin, May. Und an der Gischt. Wenn ich
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