Was allein das Herz erkennt (German Edition)
durch das Fenster. »Und Tollwut hat er auch nicht.«
»Ich weiß. Sie hat auch vorher kein Wort darüber gesagt, bis ich ihr meinen Namen genannt habe.«
»Martin Cartier? Ich dachte, der öffnet überall in Kanada die Türen, ohne große Bürokratie!«
»Nicht bei ihr. Sie erinnert sich garantiert noch an die Geschichte mit Nat. Seit dem Tag habe ich es mir bei ihr verscherzt. Sie denkt wohl, ich sei nur ein selbstsüchtiger Eishockeyspieler, der nicht einmal Zeit für seine eigene Tochter erübrigen konnte.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Du warst nicht dabei. Was mich angeht, liegt sie richtig. Sie ist ein Miststück und hat kein Recht, Thunder zu behalten, aber sie hat es auf mich abgesehen.«
»Ich sehe doch, was du für Kylie empfindest, und ich kenne deine Gefühle für Natalie.«
In eben diesem Moment wurde die Fliegengittertür mit einem Quietschen geöffnet und sie hörten Kylies Schritte auf dem Küchenfußboden. Beim Anblick der Erwachsenen erlosch die Hoffnung in ihrem Blick.
»Der alte Thunder treibt es ganz schön bunt«, sagte Martin, um ihr zuvorzukommen, und blickte aus dem Fenster. »Bestimmt klappert er die ganze Gegend ab, auf der Suche nach der hübschen kleinen Pudeldame.«
»Glaubst du, dass er in Ordnung ist?«
»Der alte Haudegen?«, lachte Martin. »Aber natürlich. Ein Basset ist ein Jagdhund. Ich mache mir vielmehr Sorgen um die armen Tiere, die ihm über den Weg laufen. Wahrscheinlich ist er bereits oben auf dem Berg und vertreibt einen Dachs aus seinem Bau. Oder scheucht einen Fuchs auf den Baum, um seinen Schwanz als Souvenir zu ergattern, für Fifi.«
»Wer ist Fifi?«, kicherte Kylie.
»Seine Angebetete«, sagte Martin. »Die französische Pudeldame.«
Kylie lachte, stand neben Martin und versuchte, einen Blick auf Thunder zu erhaschen, wie er über einen Bergpfad auf der anderen Seite des Sees flitzte.
*
Nach Einbruch der Dunkelheit, sobald May Kylie nach oben gebracht hatte, um ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, brach Martin auf. Er hatte die Schlüssel in der Tasche und ging zu der Stelle hinter dem Haus, wo sie gewöhnlich den Wagen parkten. Obwohl er jede Handbreit des Weges in- und auswendig kannte, stolperte er über eine Wurzel. Er hielt sich immer geradeaus, in dem Wissen, dass es hier keine Hürden und Fallen gab, die er überwinden musste, doch am Ziel angekommen, beschloss er, auf das Auto zu verzichten.
Er fühlte sich heute Abend nicht im Stande, ins Tierheim zu fahren.
Gestern waren seine Augen besser gewesen, gut genug, um sich ans Steuer zu setzen. Aber gestern war Thunder noch zu Hause gewesen, an der Veranda angebunden, und hatte sechs Stunden ohne Unterlass nach Fifi geheult. Genau das war das Problem mit seinen Augen. Auf sie war kein Verlass. An einem Tag sah er hervorragend, am nächsten Tag kaum mehr die Hand vor Augen. Bedauerlicherweise konnte er weder im Voraus sagen, wann sich das Problem zuspitzte, noch den Lauf der Dinge beeinflussen.
Das Tierheim lag hinter dem städtischen Parkhaus – einem bunkerähnlichen Zementklotz mit einem Fuhrpark aus alten LKWs und Schneepflügen der Gemeinde –, ungefähr sechs Meilen nördlich die Uferstraße entlang. Martin kannte diese Strecke wie seine Westentasche, war sie schon tausendmal gefahren, auf dem Weg von oder zu Rays Haus. Die Nacht war lau und es wehte ein leichter Wind. Er marschierte los, zunächst verhalten, aber bald im Laufschritt.
Seine Beine waren durchtrainiert. Beim Laufen fühlte er sich in seinem Element. Seine Arme fanden wie von selbst zu einem gleichmäßigen Rhythmus und er dachte an das Training, das im Herbst für die ganze Mannschaft begann. Sobald er wieder in Boston war, würde er mit den Übungen beginnen, die ihn in all den Jahren als Profisportler in Topform gehalten hatten.
» Merde«, fluchte er, als er wegen eines Schlaglochs ins Straucheln geriet.
Vielleicht war es auch eine Bodenwelle oder etwas in der Art gewesen – er hatte sie jedenfalls nicht kommen sehen. Die Straßenbau-Trupps der Gemeinde waren träge, es gingen bisweilen drei oder vier Sommer ins Land, bevor die Frostschäden beseitigt waren, die von den verheerenden Schneestürmen angerichtet wurden. Martin erinnerte sich, dass sie nach einem Blizzard einmal drei Wochen eingeschneit waren; zwölf Jahre war er damals gewesen. Seine Mutter und er waren von der Welt abgeschnitten, hatten weder frische Nahrungsmittel noch Zentralheizung im Haus. Sie hatten neben dem offenen Kamin kampiert,
Weitere Kostenlose Bücher