Was allein das Herz erkennt (German Edition)
einem alten Farmhaus an der Küste von Connecticut. May liebte ihre Tochter über alles, aber als sie sich nun im Flugzeug umsah, konnte sie nicht umhin, die vielen Paare zu bemerken. Das alte weißhaarige Paar, das sich die Zeitung teilte; das junge Paar im chicken Partnerlook, das sehr erfolgreich aussah und pausenlos das Handy am Ohr hatte; und zwei Elternpaare mit Kindern im Teenageralter auf der anderen Seite des Ganges.
May betrachtete die Eltern für eine Weile versonnen und fragte sich, wie es sein mochte, Kylie mit jemandem gemeinsam großzuziehen, einem Menschen, mit dem man reisen, lachen und die Sorgen teilen konnte. Sie sah, wie sich die Frau zu ihrem Mann hinüberbeugte und ihre Haare seine Schulter streiften, als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sie lächelte strahlend, er senkte den Kopf und nickte zustimmend.
Mays Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so als hätte sie eine Gräte verschluckt, und sie senkte hastig den Blick. Sie musste ohnehin noch den Stoß Papiere von Dr. Ben Whitpen, einem Mitglied der Psychologischen Fakultät der Twigg University, durchlesen. Es handelte sich um Berichte, Beobachtungen und Empfehlungen, die sich auf Kylie bezogen. Nach der Landung in Logan würde sie die Unterlagen gleich zu Kylies Hausarzt bringen, dessen Praxis sich in der Barkman Street befand. Und danach stand ihnen die lange Heimfahrt nach Connecticut bevor. Sie musterte den Briefkopf, die verwirrenden und beängstigenden Worte, die vor ihren Augen verschwammen, und der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer.
»Mom?«
»Was ist, Liebes?«
»Schau mal, die großen Männer.«
May dachte, Kylie meine den Passagier neben ihr, und beugte sich sofort zu ihrer Tochter hinüber. Die Leute reagierten bisweilen befremdet auf Kylies Verhalten. Und May sah an dem teuren Anzug, der schweren goldenen Uhr und dem eleganten Aktenkoffer des Mannes, der vor Kylies Sitz statt vor seinem eigenen stand, dass er zu den Menschen gehörte, bei denen Ärger im Verzug sein könnte.
»Der Mann arbeitet. Du darfst ihn nicht stören«, flüsterte May ihrer Tochter ins Ohr.
»Nein«, erwiderte Kylie, ebenfalls im Flüsterton, und schüttelte den Kopf. »Da vorne, in dem Abteil, da sind wirklich große Männer. Sind das Riesen?«
May und Kylie saßen in der ersten Reihe, aber Kylie spähte durch den halb geöffneten Vorhang, der Economy und Business Class voneinander trennte. Dort saßen tatsächlich mehrere hochgewachsene Männer und unterhielten sich mit einer Reihe hübscher Stewardessen, die sich in einem Halbkreis um sie scharten. Es waren durchtrainierte und muskulöse Männer, wie man am Umfang des Brustkorbs, ihrer Arme und den breiten Schultern sah. Manche trugen ein T-Shirt mit einem Logo auf dem Ärmel, vermutlich gehörten sie irgendeiner Sportmannschaft an. Die Stewardessen lachten und May hörte, wie eine sagte, sie liebe Eishockey und ob sie bitte ein Autogramm haben könne. May, die keine Ahnung von Eishockey hatte, wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Kylie zu.
»Das sind nur Männer, keine Riesen.«
»Aber große.«
»Ja, groß sind sie, da hast du Recht.« Sie dachte an das Wort ›groß‹, das viele Bedeutungen haben konnte. Kylies Vater war ›groß‹, er maß mehr als einen Meter achtzig. Er war Anwalt in Boston, in einer von diesen renommierten Kanzleien, die ihre Büros in einem Wolkenkratzer mit Blick auf den Hafen hatten, er war einer der ›Großen‹ in seinem Metier. Er hatte May allem Anschein nach geliebt, bis sie ihm eröffnete, dass sie schwanger sei, und dann hatte er ihr gestanden, dass er bereits verheiratet war. Das war ein ›großes‹ Problem. Er schickte jeden Monat Geld, ausreichend für den Unterhalt seiner Tochter, aber er legte keinen Wert darauf, sie kennen zu lernen, und das machte ihn klein .
Die psychologische Fakultät hatte den Flug bezahlt, plus eine Aufwandsentschädigung. Aber selbst mit Gordons Unterhaltszahlungen für Kylie war das Leben außerhalb der eigenen vier Wände teuer. Flugzeuge, Hotels und Restaurants waren für andere Leute, für Urlauber und Geschäftsreisende in Begleitung. May spürte, wie eine Welle der Einsamkeit sie überflutete.
Während Kylie vor sich hinsummte, sah May zu Boden und hing ihren Gedanken nach. Sie hatte die Schwangerschaft nicht geplant, hatte nie damit gerechnet, dass aus der schlimmsten Erfahrung ihres Lebens etwas so Wunderbares wie Kylie entstehen könnte. Kylie war ein Feenkind, einzigartig und seltsam, aber nicht
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