Was am Ende bleibt
gebe kein Amerika mehr, sondern nur Amerikas, und dass das Einzige, was eine schwarze, lesbische New Yorkerin und einen Baptisten aus Georgia noch verbinde, die englische Sprache und die Veranlagung zur Einkommensteuer seien.
Wahrscheinlicher aber ist, dass die Frau aus New York und der Mann aus Georgia jeden Abend die
Letterman
-Show sehen, sich beide damit herumschlagen, für sich eine Krankenversicherung zu finden, beide einen Job haben, der durch die Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland bedroht ist, beide in Discountmärkte gehen, um für ihre Kinder
Pocahontas
-Artikel zu kaufen, beide von der Fernsehwerbung in den Zynismus getrieben werden, beide Lotto spielen, beide von einer Viertelstunde Ruhm träumen, beide gegen ihre Depressionen einen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer schlucken und beide in Uma Thurman verknallt sind und deswegen ein schlechtes Gewissen haben. Die Welt der Gegenwart ist so beschaffen, dass die ergiebigen Nebendramen lokaler Gewohnheiten von einem einzigen Hauptdrama ersetzt wurden, dem Drama nämlich, dass das regional Spezifische einem kommerziellen Einerlei erliegt. Der amerikanische Autor hat es heute mit einem kulturellen Totalitarismus zu tun, analog dem politischen Totalitarismus, mit dem zwei Generationen von Ostblockautoren zu kämpfen hatten. Das zu ignorieren birgt das Risiko, der Nostalgie zu frönen. Dagegen anzugehen aber bringt die Gefahr mit sich, eine Literatur zu schreiben, die auf ein und derselben These endlos herumreitet: der Technologie-Konsumismus ist eine Höllenmaschine, der Technologie-Konsumismus ist eine Höllenmaschine …
Ebenso entmutigend ist das Schicksal der «Gewohnheiten» im allgemeineren Sinn des Wortes. Grobheit, Verantwortungslosigkeit, Doppelzüngigkeit und Dummheit sind Eigenheiten tatsächlicher menschlicher Interaktion: derStoff von Gesprächen, die Ursache schlafloser Nächte. Doch in der Welt der Konsumwerbung und der Konsumkäufe ist das Böse nie etwas Moralisches. Böse sind hohe Preise, Unbequemlichkeit, mangelnde Auswahl, das Fehlen von Privatsphäre, Sodbrennen, Haarausfall, rutschige Straßen. Das ist nicht weiter überraschend, da die einzigen Probleme, für deren Lösung es zu werben lohnt, Probleme sind, die sich durch Geldausgeben beheben lassen. Gegen das Problem schlechter Gewohnheiten aber kann kein Geld an – den Dauerquassler im abgedunkelten Kino, die gönnerhafte Schwägerin, den egoistischen Bettgefährten –, es sei denn dadurch, dass Geld einem Zuflucht in eine atomisierte Privatsphäre gewährt. Und eine solche Privatsphäre ist genau das, worauf das Amerikanische Jahrhundert hinausläuft. Erst gab es die massenhafte Abwanderung in die Vorstädte, dann die Perfektionierung der Unterhaltungsmöglichkeiten zu Hause und schließlich die Schaffung virtueller Gemeinschaften, deren markanteste Eigenheit darin besteht, dass die Interaktion in diesem Rahmen vollkommen freiwillig ist – in dem Augenblick beendbar, in dem das dort Erlebte den Chatter nicht mehr zufriedenstellt.
Dass all diese Tendenzen infantilisieren, ist schon vielerorts beschrieben worden. Seltener bemerkt wurde, in welcher Art und Weise sie sowohl unsere Ansprüche an Unterhaltung verändern (das Buch muss dem Leser etwas geben, nicht der Leser dem Buch) als auch den Inhalt dessen, was uns unterhalten soll. Das Problem für den Schriftsteller ist nicht einfach nur, dass der Durchschnittsmann oder die Durchschnittsfrau von Angesicht zu Angesicht so wenig Zeit mit seinen beziehungsweise ihren Mitmenschen verbringt; schließlich gibt es eine reiche Tradition des Briefromans, und Robinson Crusoes Lebensumstände ähneln der Vereinzelung des vorstädtischen Singles von heute immer mehr. Das eigentliche Problem ist, dass das gesamte Leben des Durchschnittsmannes oder der Durchschnittsfrau zunehmend aufeine Vermeidung derjenigen Konflikte hin angelegt ist, von denen die Literatur, die sich ja vor allem mit Gewohnheiten beschäftigt, immer gezehrt hat.
Hier nun haben wir es wirklich mit etwas zu tun, was auf das Veralten aller anspruchsvollen Künste hindeutet. Stellen wir uns vor, das menschliche Dasein ist durch einen Schmerz definiert: den Schmerz, dass wir, jeder Einzelne, nicht der Mittelpunkt des Universums sind und dass unsere Wünsche immerzu die Mittel übersteigen, sie zu erfüllen. Wenn wir in Religion und Kunst die seit eh und je gängigsten Methoden sehen, mit diesem Schmerz zurechtzukommen, was wird dann, wenn unsere technischen und ökonomischen
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