Was am See geschah
Tumor, denn es war völlig trüb und viel größer als das andere. Die Iris war nicht zu sehen, nur eine Fläche, die aussah wie ein harter blauer Schild, der erst ganz klein gewesen, aber immer größer geworden war.
Dies war der vierte Abend, an dem die Katze kam, und Maud hatte nicht vergessen, eine Plastikschüssel mitzubringen. Sie nahm die Milchtüte aus dem Eis, goß den Inhalt in die Schüssel und stellte sie in einiger Entfernung hin, denn sie vermutete, daß die Katze kein allzu großes Vertrauen zu Menschen hatte. Maud fragte sich, was sie tagsüber tat, ob sie wohl am Pier herumstreunte und im Binsengras Feldmäuse fing. Konnte sie die Schüssel überhaupt sehen?
Für Maud ging vom Geschwür im Auge der Katze eine unerklärliche Bedrohung aus, und bei der Katze war es schlimmer, als es bei einem alten, kranken Menschen gewesen wäre, weil die Katze sich ihres Gebrechens nicht bewußt war.
»Warum zum Teufel soll die arme Katze es denn wissen?« hatte Sam gefragt. »Wäre es dann nicht noch schlimmer für sie?«
»Das hab ich doch nicht gemeint; du verstehst mich nicht.«
»Würdest du es gern wissen?«
Maud verstand selbst nicht so recht, warum es schlimm war, daß die Katze nicht wußte, daß ihr Zustand nicht normal war. »Ja. Aber das ist sowieso eine blöde Frage, weil ich’s auf jeden Fall wüßte, ob ich will oder nicht.«
»Also, okay. Die Katze weiß es nicht, ob sie nun will oder nicht.«
»Du verdrehst wieder alles.« Sie hatte die Katze an jenem Abend beobachtet, als sie dasaß wie jetzt, gähnte, ahnungslos, ohne Bewußtsein davon, daß etwas Gräßliches ihr linkes Auge verzehrte. Nicht, daß Maud die Mißbildung abstoßend gefunden hätte; daß die Katze keine Alternative kannte, nicht wußte, daß ihr Auge auch vollkommen gesund sein könnte - das war es.
»Nehmen wir mal an«, hatte Sam gesagt, als die Katze zum erstenmal aufgetaucht war, »daß das Auge nicht weh tut, was der Fall zu sein scheint, wenn man die Katze so ruhig dasitzen sieht.«
»Woher willst du das wissen?«
Sam brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Nehmen wir’s einfach mal an. Also, was die Katze angeht, ist alles genau, wie es sein soll. Eines Tages beginnt sich ihr Auge zu trüben. Denkt sie sich da: ›Mein Gott, ich sollte wohl besser mal zum Arzt gehen‹, oder ›Ich sterbe‹, oder ›Ich werde blind‹? Nein. Sie nimmt es einfach hin und macht sich keine weiteren Gedanken.«
Die Katze war inzwischen zum Rand des Piers stolziert und hatte sich hingelegt, so, als langweile sie das ganze Gerede über ihr Schicksal. Dann drehte sie sich auf die andere Seite.
»Du interpretierst Dinge in diese Katze hinein, von denen sie keinen Schimmer hat und die ihr völlig egal sind.« Sam hatte mit einem Knall eine weitere Bierdose aufgerissen, um seiner Meinung Nachdruck zu verleihen.
Maud antwortete ihm nicht. Das Gespräch drehte sich im Kreis, sie konnte ihm einfach nicht erklären, was sie meinte. Es war ihr, als befände sie sich in einem Zimmer, in dem man jäh die Fensterläden schloß, stellte sich vor, wie sie zusammenzuckte, sich aufsetzte und sich fragte, was geschehen war. Nein, dachte sie ungeduldig, das war es nicht.
Die Katze hatte an der Milchschüssel geschnuppert, trank aber nicht. Konnte sie die Milch sehen? Blöde Frage; ein gesundes Auge hatte sie immerhin. Auf jeden Fall konnte sie sie riechen. Vielleicht war sie zu kalt. Vielleicht hätte sie den Karton nicht auf das Eis stellen sollen. Daß sie und Sam ihre Getränke eiskalt mochten, hieß noch lange nicht, daß das auch für die Katze galt.
Warum soll die Katze es denn wissen?
Maud betastete das Buch in ihrem Schoß - eine Anthologie amerikanischer Lyrik -, als handele es sich um eine dieser kleinen zugestöpselten Flaschen, die die Indianer, soweit sie wußte, für magische Zwecke benutzten, und als könne aus ihm die Antwort hervorgehen. Die Katze saß jetzt näher beim Stuhl und sah mit ihrem getrübten Auge zu ihr hoch. Sie empfand etwas Stärkeres als Mitleid. Es war eher etwas wie Reue oder Scham. Das Blut stieg ihr in den Nacken, erhitzte ihr Gesicht, als habe man es mit einer Fackel in Brand gesetzt, und sie hätte sich noch einen Drink eingeschenkt, wenn nicht ihre Hand plötzlich so stark gezittert hätte, daß sie das Glas hinstellen mußte. Es war, als habe man ihr eine Aufgabe gestellt: Sie mußte die Antwort finden auf die schwierige Frage, warum es für die Katze so schlimm war.
Ihr fiel einfach keine
Weitere Kostenlose Bücher