Was bin ich wert
Solidargemeinschaft bekommen.« Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen, erklärte er. Scheer schaut ein wenig verächtlich.
– Natürlich gab es Proteste. Die haben den Aufstieg des Herrn Mißfelder aber nicht groß beeinträchtigt. Im Gegenteil.
Stimmt. Mißfelder entschuldigte sich, falls er jemanden verletzt haben sollte, nahm inhaltlich aber nichts zurück. Er sitzt nach wie vor im Bundesvorstand der CDU , seit 2005 auch im Bundestag und seit 2008 im Präsidium der CDU . Nebenbei bastelt er erfolgreich an seinem Aufstieg innerhalb der Fraktion und ist mittlerweile auch Co-Leiter des Initiativkreises »Zusammenhalt der Generationen« der CDU . Scheer schaut auf die Uhr. Er muß noch irgendeinen Flieger kriegen.
– Ich wende mich ja nicht gegen rationale Berechnungen. Aber sie müssen die richtigen Prämissen haben. Wenn man zum Beispiel die Schäden der Umweltverschmutzung volkswirtschaftlich berechnet, wenn man deutlich macht, welche ungeheuren Summen das unsere Gesellschaft langfristig kosten wird, dann führt das zu sehr sinnvollen Erkenntnissen und politischen Schlußfolgerungen.
Das war das Schlußwort. Ich werde Scheer nicht wiedersehen. Er stirbt im Oktober 2010 in Berlin.
Als ich nach unserem Gespräch wieder auf der Straße stehe, ist davon nichts zu ahnen. Ich hole tief Luft und denke nach. Erst mal über meinen politischen Wert, das heißt meinen Wert als Wähler. Nach Paragraph 18 des Gesetzes über die politischen Parteien bekommt eine Partei für meine Stimme bei einer Europa-, Bundestags- oder Landtagswahl jährlich 70 Cent vom Staat. Ich kalkuliere mit grob 60 Jahren Wählerdasein (von 18 bis 78), konsequenter Wahlbeteiligung bei den drei genannten Wahlen und insgesamt stabilen demokratischen Verhältnissen – das macht dann 2,10 Euro im Jahr und 126 Euro für mein ganzes passives politisches Leben. Eine insgesamt doch recht überschaubare Summe. Aber noch einmal zurück zu Scheer. Durch die Monetarisierung des Menschen droht die Zersetzung unserer Gesellschaft, hat Scheer gesagt. Mhm. Da komme ich mir mit meiner Frage gerade mindestens albern vor. Und jetzt? Tief Luft holen, verschärft nachdenken und: Aufgeben gilt nicht, soviel ist klar. Das hab ich im Leistungssport gelernt. Also weiter. Aber mein Anfangsverdacht erhärtet sich. Das mit den Menschenwertberechnungen ist vielleicht nicht ganz koscher.
Zu Hause schreibe ich eine Mail an Philipp Mißfelder. Ich bitte um ein Gespräch, möchte wissen, wie er heute zu seiner Aussage steht. Vier Tage später bekomme ich einen Anruf von einem seiner Mitarbeiter. Einen Termin gibt es nicht. Und ja, die Aussage stehe nach wie vor.
Die Rentner, das macht die Mißfelder-Anekdote deutlich, haben es nicht leicht, wenn es um die Frage nach dem Wert eines Menschen geht.
Der Respekt oder in diesem Zusammenhang besser die Wertschätzung für alte Menschen ist in unserer Gesellschaft nichtsonderlich ausgeprägt. Sie ist mehr auf Leistung und Jugend ausgerichtet. Dazu kommt, daß der Wert, also der ökonomische Wert ihrer Erfahrungen in der Zeit der Wissensexplosion und ständig neu entwickelten Technologien rasant abnimmt. Vielleicht sollte ich mal mit meiner Mutter sprechen. Sie ist 74. Ich rufe sie an.
9.
»Kommt drauf an, für wen«, sagt meine Mutter
– Mama, was ist ein Mensch wert?
– Warum willst du das wissen?
– Nur so.
– Schwierige Frage. Das hängt ja auch davon ab, was einer macht. Ob er Verantwortung übernimmt und anderen Arbeit gibt.
– Also gut. So ein normaler Mensch, einer, der keine Verantwortung übernimmt und niemandem Arbeit gibt. Was wäre der wert? Ich meine in Euro.
Sie überlegt.
– Vielleicht 100 000.
Meine Mutter ist nicht geizig, eher sparsam.
– Warum 100 000?
– Das ist viel Geld.
– Sind alle Menschen gleich viel wert?
– Ich glaube nicht. Bei einem armen Inder wäre es wohl weniger.
– Wieviel denn?
– Vielleicht so 100 Euro. Aber das ist wirklich schwierig zu beantworten.
– Ja, das ist es.
Jetzt, es fällt mir nicht leicht, muß die Frage raus.
– Und findest du, daß alte Menschen weniger wert sind als junge Menschen?
– Das kann ich ja nicht sagen, weil ich selber alt bin. Auch alte Menschen haben Sehnsüchte und Qualitäten, oder?
– Doch. Klar. Natürlich.
Sie meint das nicht vorwurfsvoll. Trotzdem schäme ich mich ein bißchen für meine letzte Frage. Ich weiß, daß meine
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