Was bin ich wert
Organbörse für jemanden, »der nicht genug Geld hat, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu finanzieren«, in einem Interview mit dem Deutschlandradio äußerte, landeten seine Thesen in einem Internetforum für Fachkräfte in Sozialämtern. Dort diskutierten Fallmanager der Bundesagentur für Arbeit sogleich die Frage, wie die Einnahmen aus möglichen Organverkäufen von Hartz-IV-Empfängern eventuell mit den bezogenen Unterstützungsleistungen verrechnet werden könnten.
Betroffene Hartz- IV -Empfänger, die das mitbekamen, waren über die Gedankenspiele entsetzt. »Und was kommt als nächstes?«, fragte der Nutzer eines Internet-Forums. Ein anderer fürchtete: »Dann werden wohl Hartz- IV -Antragsteller, die noch zwei Nieren haben, gezwungen, erst mal eine zu verkaufen und den Erlös aufzubrauchen. Erst danach können sie einen neuen Antrag stellen! Und Frauen, die in der Lage sind, Kinder auszutragen, werden dann wohl gezwungen, als Leihmütter für besserverdienende Karrierefrauen herzuhalten …«
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»Ich habe für viele einen negativen Wert.« Eine Begegnung mit Peter Sawicki
Ein Mittwochabend in einem großen Vortragsraum der AOK in der Berliner Wilhelmstraße. Das Patienten Forum Berlin hat zu einer Informationsveranstaltung geladen, und gut 70 Zuhörer, die meisten im Rentenalter, sind gekommen. Gast ist Professor Peter Sawicki. Er soll die Arbeit des 2004 gegründeten Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen ( IQW i G ) in Köln vorstellen, das er zu diesem Zeitpunkt leitet. Das Institut überprüft im öffentlichen Auftrag mit etwa 100 Mitarbeitern den medizinischen Nutzen, die Qualität und die Wirtschaftlichkeit von Operations- und Diagnoseverfahren, Arzneimitteln und Behandlungsleitlinien. Das soll beispielsweise gewährleisten, daß teure neue Medikamente von den gesetzlichen Krankenkassen nur dann bezahlt werden, wenn sie wirksamer sind als die älteren, meist billigeren Alternativen.
Breyer hatte vom IQW i G gesprochen. Er und andere einflußreiche Gesundheitsökonomen, unter anderem auch Oberender, fordern von dem Institut die Verwendung von Kosten-Nutzen-Rechnungen, inklusive der Entscheidung, wieviel Geld ein »qualitätskorrigiertes« Lebensjahr ( QALY ) wert sein soll.
Sawicki weigert sich jedoch, das zu tun. Ich wüßte gern, warum. Der 1957 geborene ehemalige Chefarzt für Innere Medizin war Mitherausgeber des unabhängigen arznei-telegramms . Dort kritisierte er beharrlich die Praktiken der Pharmaindustrie, der er dann auch in seinem neuen Amt als Leiter des – so der inoffizielle Beiname – »Medikamenten- TÜV s« keine Freude bereitete. Im Gegenteil. Aber schließlich wurde das weitgehend von den gesetzlichen Krankenkassen finanzierte Institut von der Politik ja als eine Art Bremsklotz gegen die wirtschaftlichen Interessen der Medizinindustrie gegründet, was Die Zeit eine »olympische Aufgabe« nannte. Ein paarMonate nach meinem Gespräch mit Sawicki wird allerdings bekannt, daß die im September 2009 gewählte schwarz-gelbe Bundesregierung kein Interesse mehr an seinen Diensten hat. Im Januar wird dann offiziell verkündet, daß sein noch bis Ende August 2010 laufender Vertrag nicht verlängert wird. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel spricht in diesem Zusammenhang von einer »Intrige«.
Sawicki trägt einen dunkelblauen Anzug, ein blau-weiß gestreiftes Hemd und eine blau-blau gestreifte Krawatte. Er spricht sanft, aber klar und ein wenig leise. Viele seiner Aussagen würzt er mit einer feinen Dosis Ironie. Man kann das arrogant oder auch charmant finden.
Die Moderatorin des Abends sagt bei der Vorstellung Sawickis, im Saal befänden sich auch Vertreter der Pharmalobby. Halb erstauntes, halb entrüstetes Gemurmel im Publikum. Handfester Ärger droht wenig später, als bemerkt wird, daß einer der Gäste die Veranstaltung mit einem Mikrophon aufzeichnet. Ob es sich dabei um eine Art Industriespion oder einen Journalisten handelt, der vergessen hat sich die Aufnahme genehmigen zu lassen, bleibt unklar.
In seinem locker gehaltenen Vortrag plädiert Sawicki dann für die Solidargemeinschaft und den beim IQW i G verfolgten Ansatz der evidenzbasierten Medizin. Evidenz bedeutet soviel wie »Beweis«. Es geht also um eine Medizin, deren Nutzen auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien belegt ist. Das hatte ich bisher immer für selbstverständlich gehalten.
Nach der Veranstaltung sitzen wir in einem kleinen Besprechungsraum. Ich habe bei Sawickis
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