Was bin ich wert
bei individuellen Entscheidungen. Auch er hält 50 000 Euro für ein »qualitätskorrigiertes Lebensjahr« für angemessen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, frage ich lieber noch mal genauer nach.
– Wenn bei mir also eine Operation notwendig wäre, die mir statistisch noch zwei gesunde Lebensjahre garantieren würde. Diese zwei Lebensjahre wären dann 100 000 Euro wert. Wenn die Operation dann 80 000 Euro kostet, wäre alles okay?
Oberender nickt.
– Und bei 120 000 Euro Kosten, sähe es nicht so gut aus, oder?
Oberender nickt wieder. Ganz ruhig.
– Das müßte man dann diskutieren. Das Lebensalter könnte eine zusätzliche relevante Variable sein. Wenn Sie 70 sind und sich nicht mehr um Kinder kümmern müssen, würde ich sagen: »Nein, keine Operation«. Man könnte Ihnen aber auch 100 000 Euro zur Verfügung stellen, und die fehlenden 20 000 Euro zahlen Sie selbst.
– Aber die 20 000 Euro hat vielleicht nicht jeder.
– Ich sehe natürlich auch, daß es für arme Leute schwierig wird. Aber ich kann ja niemandem verbieten, die 20 000 Euro zu zahlen, wenn er sie hat. Und es wäre natürlich auch noch mal was anderes, wenn es um eine Mutter oder einen Familienernährer geht. Dann sollte vielleicht auch mehr gezahlt werden. Ohne Kinder würde ich aber wie bei einem 70jährigen entscheiden.
Ich habe nur eine leibliche Tochter, und weil wir uns die Erziehungsaufgaben teilen, ernähre ich die Familie auch nur zur Hälfte. Das könnte kompliziert werden.
– Und wenn es sich nicht mehr »lohnt«?
– Dann muß man mit dem Patienten offen reden und ihm Erleichterung bei den Schmerzen anbieten. Ich hatte zwei tragische Fälle in meinem Freundeskreis. Die sind an ihren Schmerzen zugrunde gegangen. Warum wollen wir da nicht auch Sterbehilfe leisten?
Was Oberender da vorschlägt, entspricht einer Art sozialer Selektion und erinnert mich an eine beklemmende Vision, die die schwedische Autorin Ninni Holmqvist in ihrem 2008 im Fahreinheit-Verlag erschienenen Roman Die Entbehrlichen ausformuliert hat. Sie beschreibt, wie in einer nicht allzu fernen Zukunft die »entbehrlichen« Mitglieder einer Gesellschaft in die sogenannte »Einheit« verschafft werden. Das ist ein abgeschlossener, durchaus komfortabler Ort für medizinische Experimente und Organentnahmen bis hin zur tödlichen »Endspende« für einen »benötigten« Bürger. Das Erschreckende der Geschichte liegt nicht in dramatischen Gewaltszenen, denn solche gibt es gar nicht, sondern in dem subtilen Geschick, mit dem Holmqvist bekannte Ansätze konsequent und phantasievoll zu Ende denkt.
Soziale Wertigkeit bei der Zuteilung medizinischer Ressourcen kann aber auch im »echten« Leben eine Rolle spielen. Das zeigt exemplarisch eine Geschichte, die sich in den sechziger Jahren im Swedish Hospital von Seattle abspielte. Weil dort zu wenige Maschinen vorhanden waren, mußte entschieden werden, welche Patienten Zugang zur lebensrettenden Nierendialyse bekommen sollten. Es wurde ein Komitee gegründet, das zu bestimmen hatte, wer leben durfte und wer sterben mußte. Die Jury bestand in der ersten Zusammensetzung aus einem Anwalt, einem Pfarrer, einer Hausfrau, einem Gewerkschaftsführer, einem Staatsbeamten, einem Banker und einem Chirurgen. Keiner hatte eine spezielle Qualifikation für diese lebensentscheidende Aufgabe. Verheiratete Männer mit Kindern wurden bei der Auswahl gegenüber unverheirateten Männern und Frauen oder kinderlosen Ehepaaren bevorzugt. Arbeitende Menschen galten mehr als Erwerbslose. Und während ehrenamtlich Tätige sowie Kirchgänger grundsätzlich bessere Chancen hatten, wurden Menschen mit Vorstrafen oder geistig Behinderte ebenso grundsätzlich abgelehnt. Die Anwendung dieser speziellen Standards der Mittelklasse sorg-te später für enorme Empörung. 1973 wurde dann ein staatliches Programm eingeführt, das allen Patienten, die an einerlebensbedrohlichen Nierenkrankheit leiden, uneingeschränkte Unterstützung garantiert.
Ein klares Raster der sozialen Wertigkeiten findet sich heute (noch oder schon?) im Rechtssystem einiger islamischer Staaten. Im Iran etwa ist ein Muslim vor einem Richter doppelt soviel wert wie eine Muslimin, 13mal soviel wie ein Christ und 26mal soviel wie eine Christin.
Oberender schaut auf die Uhr. Er hat noch Termine, und ich will noch was über seine Ideen zum Organ-Markt erfahren. Er nimmt das Stichwort direkt auf, bleibt dabei weiter ganz
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