Was bisher geschah
ihre »weibliche«, »antiheroische Zivilisation« à la Voltaire. Demgegenüber preist Mann die deutsche Kultur des »dämonischen Wissens«, Kunst und Krieg sind ihm gleichermaßen Ausdruck von Freiheit.
Natürlich kann man Manns Text von 1914 literarisch lesen und mit der allgemeinen Kriegsbegeisterung erklären, die auch Dichter wie Rilke erfasst. Nebeneinander betrachtet sind die beiden Äußerungen Thomas Manns jedenfalls ein extremes Beispiel dafür, welche Verwirrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch bei Intellektuellen herrscht. In Zeiten, in denen kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen wie der Kubismus und Einsteins Relativitätstheorie verschiedene Perspektiven und Zeiterfahrungen gleichzeitig ermöglichen und komplexe Bilder der Welt vorführen, sind viele verunsichert. Die Industrialisierung und der offenkundige Verfall alter Hierarchien und Autoritäten vom Gutsbesitzer über den Dorfpfarrer bis zum Kaiser werfen Fragen nach der gesellschaftlichen Ordnung auf. So suchen viele nach einer einfachen Orientierung, wenden sich Ideologien wie dem Militarismus, Faschismus und Kommunismus zu und wollen und können sie anders als im 19. Jahrhundert auf radikale Weise umsetzen.
Schildert Thomas Mann in seinem Roman Buddenbrooks 1901 den Niedergang des gebildeten Bürgertums, kann man sich die Spannungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlaglichtartig mit Blick auf zwei sehr unterschiedliche Lebenswelten vor Augen führen: Einerseits ist es die neue Welt des Jugendstils, der Lebensreformer, Pazifisten, Nudisten, Anarchisten, Avantgardisten und Ausdruckstänzer. Ab 1900 nehmen sie, etwa auf dem Monte Verità bei Ascona, mit ihren langen Haaren, Bärten und Jesuslatschen die Hippiekultur der sechziger Jahre vorweg. Die andere Welt ist die der alten Machthaber wie Kaiser Wilhelm II., General von Hindenburg und Ludendorff und der jungen Aufsteiger wie Adolf Hitler, die steif in ihren Uniformen stecken, weder tanzen noch debattieren. Sie sehen den Krieg als grandioses Schauspiel und Hort der Kameradschaft und lieben ihn mehr als ihre Frauen.
Zwar gibt es zwischen den zwei Welten hier und da Überschneidungen, was ein ideologisches, völkisches, rassistisches Denken sowie einen Natur-, Körper- und Gesundheitskult betrifft. Doch ist es letztlich die zweite, offen militaristische Welt, die in den Ersten Weltkrieg führt – und auch in den Zweiten. In beiden Kriegen zusammen werden rund 70 Millionen Menschen sterben. Das Grauen ist umso weniger fassbar, als es im Europa des 19. Jahrhunderts im Vergleich friedlich zuging. Man war so reich wie nie – auf Kosten der restlichen Welt, die in Kolonien aufgeteilt und ausgebeutet wurde. Im Jahr 1900 intervenieren Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich-Ungarn, die USA, Russland und Japan gemeinsam in China und unterdrücken den Boxeraufstand gegen Ausländer. Die Einigkeit in Sachen Imperialismus ist allerdings kein Garant für den Frieden untereinander, sondern einer der Gründe für den Ersten Weltkrieg.
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Orden, Uniformen, Männerbünde: Das Bild zeigt unter anderen Adolf Hitler, Erich Ludendorff und Ernst Röhm.
Die Urkatastrophe Erster Weltkrieg: das Grauen, die Propaganda – und die Anti-Kunst
Im Ersten Weltkrieg prallen zwei riesige Blöcke aufeinander, deren Mitglieder teils untereinander verfeindet sind: einerseits die Mittelmächte, andererseits die Entente beziehungsweise die Alliierten. Die Mittelmächte sind das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien. Bulgarien spaltet sich erst 1908 von den Osmanen ab, wird ein selbstständiges Königreich und kämpft im ersten Balkankrieg 1912 gegen die Osmanen. Im zweiten Balkankrieg von 1913 verliert man Gebiete an das zuvor verbündete Serbien, Griechenland und Rumänien. Letztere gehören nun zu den Alliierten um Frankreich, Großbritannien und Russland; dazu kommen Belgien, Italien, Portugal und außereuropäische Staaten wie die USA, Kanada, Südafrika, Australien, Neuseeland, Kuba – und die Erzfeinde Japan und China.
Die Motive für die Kriegsteilnahme sind ähnlich vielfältig wie die Bündnispartner: An erster Stelle sind die Großmachtträume und der Militarismus des Deutschen Reiches unter Wilhelm II. zu nennen. Als zweitgrößte Industrienation nach den USA will man Kolonien, einen »Platz an der Sonne« (Kanzler von Bülow). Die Aufrüstung der Flotte unter Admiral von Tirpitz missfällt wiederum der Seemacht
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