Was bisher geschah
Frankreich und Belgien würde ziviler Widerstand geleistet, heizt sie die Truppen zu Massakern an der einheimischen Bevölkerung an. In einem Zeichentrickfilm erscheint England als Krake über Europa. Auf Brettspielen der Alliierten muss man den deutschen Kaiser fangen; US-Matrosen verbrennen ihn, bevor sie in See stechen, öffentlich in Form einer Puppe. Wirkt die Propaganda im Rückblick grob geschnitzt, muss man bedenken, dass die Plakate damals neuartig farbig sind, die Filme und Wochenschauen für die meisten Zuschauer der erste Kinobesuch. In einer Art Kurzspielfilm prangert Sarah Bernhardt, einer der ersten Filmstars, die Zerstörung der Kathedrale in Reims durch die Deutschen an. Dass sich in Großbritannien Millionen von Freiwilligen melden, verdankt sich auch Aktionen, bei denen Frauen daheim gebliebenen Männern auf der Straße eine weiße Feder in die Hand drücken, um sie als Feiglinge zu brandmarken.
Inzwischen wird der Erste Weltkrieg oft als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Dabei schwingt der Gedanke mit, dass er auch eine Wende im Kulturleben markiert (griech. katastréphein = »umkehren, wenden«). Formideale, die jahrhundertelang als verbindlich galten, zerbersten. Die Mischung der Propaganda aus absurden Aktionen, Pathos und düsterem Humor findet ihr Gegenstück in grotesken privaten Zeichnungen und Fotos von Frontsoldaten – und inspiriert die pazifistische Anti-Kunst-Bewegung Dada, die 1916 im »Cabaret Voltaire« in Zürich entsteht. Dada wird noch das 21. Jahrhundert darin prägen, dass man Werbemüll, Fernseh-Trash, private Schnappschüsse und Gesten als Kunst deuten kann. Dadaisten wie Hugo Ball, Marcel Janco, Hannah Höch und John Heartfield wollen mit Aktionen und Collagen die bürgerliche Kultur überwinden, die sich im Krieg diskreditiert hat. Verherrlichen die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti den Krieg wegen seiner Geschwindigkeit und Modernität, erinnern die dadaistischen Lautgedichte an das »Kriegszittern«, das Nervenleiden von Hunderttausenden traumatisierter Veteranen. Wenn der Dadaist Hugo Ball als komischer Vogel und mit Schamanenhut verkleidet dichtet, versucht er in einer Art Exorzismus, seelische Wunden zu heilen.
Bild 13
Das Arrangement aus Totenkopf, Pilotenkappe und Geldschein stammt von einem Flieger aus dem Ersten Weltkrieg. Derart private Kunstwerke waren unter Soldaten nicht unüblich und passen zur Anti-Kunst des Dada.
Eine der eindrucksvollsten Praxisanwendungen von Strategien der Anti-Kunst dürfte Ernst Friedrichs viersprachiges Buch Krieg dem Kriege (1924) sein. Während Erich Maria Remarque in seinem Bestseller Im Westen nichts Neues (1929) die Kriegsgräuel beschreibt und Ernst Jünger in In Stahlgewittern (1920) den Krieg zum inneren Erlebnis stilisiert, unterlegt Friedrich kaum zu ertragende Fotos verstümmelter Soldaten mit Bibelzitaten, verfremdet die Bilder mit Worten von Schiller, aber auch Hindenburg wie: »Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur.« So führt Friedrich den Zynismus von Generälen und anderen Kriegsbefürwortern vor. Er zeigt auch bestürzende Bilder vom Völkermord der Türken an den Armeniern.
Die Golden Twenties: zwischen Sozialstaat, Kapitalismus und Faschismus
Das politische Ergebnis des Ersten Weltkrieges, der mit der Kapitulation des Deutschen Reiches am 11. November 1918 endet, ist der Sturz von vier riesigen Monarchien: des Deutschen, Russischen und Osmanischen Reiches sowie Österreich-Ungarns. Im Gegenzug werden in ganz Europa neue Staaten gegründet: Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Estland, Litauen, Polen und Finnland. Vor allem im Nahen Osten werden Territorien des ehemaligen Osmanenreiches – zum Beispiel Palästina, um das sich Araber und Israelis bis heute streiten – nun Mandatsgebiete der Briten. Insgesamt büßt Europa nach dem Ersten Weltkrieg an Einfluss zugunsten der USA ein, die sich als Supermacht konstituieren – und langfristig als Gegenspieler des kommunistischen Russland.
Betrachtet man Europa am Ende des Ersten Weltkrieges, könnte man grob von einer Zweiteilung sprechen. Im Nordwesten, von Frankreich bis Skandinavien, etablieren sich einigermaßen demokratische Systeme und ein gewisser Wohlstand; Dänemark etwa begründet unter Ministerpräsident Thorvald Stauning ab 1924 seinen Ruf als Wohlfahrtsstaat. Demgegenüber sind der Süden und Osten von der Iberischen Halbinsel über Italien und den Balkan bis Polen von weniger stabilen
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