Was bisher geschah
Gelehrte finden die Geschichten auch davor Verbreitung. Und über die Jahrhunderte wird die Bibel zu einem der meist gelesenen Bücher weltweit.
Für die Juden selbst stärkt das Alte Testament das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Diaspora, ihrer »Zerstreuung« in alle Welt, die zunächst mit der Zwangsumsiedlung nach Babylon und später mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. zusammenhängt, aber auch mit der Gründung jüdischer Handelskolonien. Trotz oder gerade wegen seines Mangels an historischer Verlässlichkeit, an deren Stelle oft starke Bilder und spannende Heldengeschichten treten, wird das Alte Testament ähnlich wie Homers Ilias und Odyssee und später das Neue Testament über Jahrtausende und teils bis heute wie ein Geschichtsbuch gelesen. In mancher Hinsicht haben diese Texte unser Geschichtsbild stärker beeinflusst als jene von Herodot oder Thukydides, die unserem heutigen Verständnis nach Historiker sind und im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland leben. Dort steht die zweite, ebenfalls textlastige, aber gewissermaßen körperfreundlichere Wiege der westlichen Kultur.
KAPITEL ZWEI
Think different
Das antike Griechenland: die Geburt der innovationskultur und des Körperkultes
»Der Verführte aber hat im Anfang nur Schmerzen und Tränen, und wenn dann allmählich der Schmerz nachlässt, magst du ihm wohl, wie man sagt, etwas weniger Ungemach bereiten, aber Lustgefühl hat er nicht das allermindeste.« So argumentiert ein gewisser Charikles in Lukians Dialog Erotes (auch Amores ) gegen die sogenannte Knabenliebe – dagegen, dass ältere Männer Sex mit minderjährigen Jungen haben. Der Gesprächspartner Kallikratidas gibt zu bedenken, dass es da gar nicht so sehr um Sex gehe, sondern um echte Freundschaft. Die sei nur unter Männern möglich. Denn Frauen nerven bloß, indem sie zu lange Bäder nehmen und Zeit mit der Pflege ihrer Haare vergeuden. Die Liebe zwischen Männern sei demgegenüber spiritueller Natur. Eben diese Liebe diene nicht dem banalen Zweck der Fortpflanzung und unterscheide, so Kallikratidas, den Menschen vom Tier. Im Lauf des Gesprächs wird auch die Frage leidenschaftlich diskutiert, welcher Natur das Verhältnis zwischen Sokrates und seinem Schüler Alkibiades genau gewesen sei.
Zwar stammt der Dialog aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. und ist satirisch gemeint. Doch bezieht er sich auf eine Praxis, wie sie in den vorchristlichen Jahrhunderten in Griechenland üblich ist. Tatsächlich haben erwachsene Männer beziehungsweise Lehrer Sex mit Schülern. Was inzwischen strafbar ist, war damals sogar Teil des Erziehungsprogramms: Über die Erfahrung des Sinnlichen sollen Schüler zur vergeistigten Liebe, der Erkenntnis des Schönen und Göttlichen gelangen. Aus heutiger Sicht ist die Behauptung, Sex mit älteren Herren wecke bei Knaben göttliche Gefühle und sei pädagogisch zu motivieren, natürlich grotesk; und schon in der Antike wird der »pädagogische Eros« zur unkörperlichen Verbindung zwischen Lehrer und Schüler sublimiert. Umso kurioser ist es, dass das deutsche Wort Gymnasium an die Tradition erinnert. Denn es kommt vom griechischen gymnós (»nackt«) beziehungsweise vom gymnásion . Das ist der Ort, wo man im alten Griechenland nackt oder spärlich bekleidet Sport treibt und den Geist in Diskussionen schult.
Als praktischer Grund für das intime Lehrer-Schüler-Verhältnis bei den alten Griechen ließe sich aus damaliger Sicht die fachkundige Einführung in die wichtigen Dinge des Lebens, also auch die körperliche Liebe, nennen. Die jungen Männer bauen auf diese Weise aber auch Netzwerke, dauerhafte Verbindungen mit den tonangebenden Lehrern der Zeit auf, die ihnen im Lauf ihres Lebens nützlich sein werden. Tatsächlich nutzen die älteren, einflussreichen Lehrer die Abhängigkeit der jungen Leute auch ganz bewusst aus. Der »pädagogische Eros« hatte auch damals schon vielfach eher mit Macht als mit Erotik zu tun. Doch das sexuelle Verhältnis und vor allem die Diskussionen darüber passen mit all ihren aus heutiger Sicht absurden Seiten in einem weiteren Sinn zum Kulturverständnis der Griechen: Typisch griechisch ist damals, geistige Auseinandersetzungen relativ offen mit starken, auch intimen körperlichen Empfindungen zu verbinden, sozusagen mit gemischten Gefühlen von Lust bis Schmerz. Die Mischung passt zur Natur des Eros, des als geflügelter Jüngling dargestellten Liebesgottes (Amor, Cupido). Der Sohn des
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