Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
bin, und brachte das Wort »Zukunft« ins Spiel – ein Wort, gegen das wir alle wehrlos sind und das imstande ist, die Atmosphäre eines jeden Raumes zu verändern und eine jede Menschenansammlung zu bewegen. Die junge Frau – Lehrerin? Musikstudentin? Technische Zeichnerin? – hätte sich nie das Herz gefaßt, öffentlich zu sprechen, wenn sie nicht extra gekommen wäre, um die für sie unaufschiebbare Frage zu stellen: auf welche Weise aus dieser Gegenwart für uns und unsere Kinder eine lebbare Zukunft herauswachsen solle.
    Sie sprach ohne Betonung, sie warf sich nicht auf, klagte nicht an, ließ nichts durchblicken. Sie wollte nur wissen. Alle im Saal hatten das Signal vernommen, ein jeder auf seine Weise. Das Bronzeschild der Kollegin K. begann verzweifelt zu scheppern, das half ihr nun rein gar nichts mehr. Und wenn in großer Leuchtschrift die Wörter WACHSTUM WOHLSTAND STABILITÄT an der Wand erschienen wären – nichts hätte mehr geholfen, denn nun standen die wirklichen Fragen im Raum, die, von denen wir leben und durch deren Entzug wir sterben können.
    Ich sagte etwas in dieser Art und gab mir Mühe, wie ich es mir angewöhnt hatte, die junge Lehrerin, die vielleicht arglos unter Argen saß, nach Kräftenzu decken und den Anlaß für ihre Frage auf mich zu nehmen. Gleich schämte ich mich dieses Manövers, denn an mehreren Stellen im Saal gingen die Hände hoch, erhoben sich Stimmen, die die Frage der jungen Frau nicht nur als ihre eigene wiederholten, sondern sie erweiterten und sich in unbekümmerter und rücksichtsloser Manier auf sie einließen. Was taten diese Leute. Sie brachten sich in Gefahr. Aber mit welchem Recht hielt ich sie für dümmer als mich? Mit welchem Recht nahm ich mir heraus, sie vor sich selbst zu schützen?
    Da schwieg ich denn und hörte zu, wie ich in meinem Leben nicht oft zugehört hatte. Ich vergaß mich, man vergaß mich, zuletzt vergaßen wir alle Zeit und Ort. Der Raum lag im Halbdunkel. Mit den Formen fiel bald die Förmlichkeit. Es fiel die entsetzliche Angewohnheit, für andere zu sprechen, jeder sprach sich selbst aus und wurde dadurch angreifbar, manchmal zuckte ich noch zusammen: Wie angreifbar. Aber das Wunder geschah, keiner griff an. Ein Fieber erfaßte die meisten, als könnten sie es nie wieder gutmachen, wenn sie nicht sofort, bei dieser vielleicht letzten Gelegenheit, ihr Scherflein beisteuerten für jenes merkwürdig nahe, immer wieder sich entziehende Zukunftswesen. Jemand sagte leise »Brüderlichkeit«. Wahnsinn, dachte ich; ein anderer sprang auf, schüttelte die Fäuste, griff sich an den Kopf vor soviel Naivität und wußte nicht, wie ihm geschah, als sie ihm von verschiedenenSeiten ganz ruhig den Gebrauchswert des utopischen Wortes vorhielten; setzte sich kopfschüttelnd, ein anderer, der sich gerne reden hörte, wurde heiter auf das Wesentliche hingelenkt, das immerhin auch er meinen mochte. Als stehe man vor einem Fest, wurde die Stimmung im Saal immer lockerer. Buchtitel wurden durch den Raum gerufen, manche notierten sie sich, andere fingen an, mit ihren Nachbarn zu reden, um die junge Frau, die zuerst gesprochen hatte, bildete sich ein Kreis.
    Wo hatte nur die Kollegin K. ihre Sinne. Trug sie nun Verantwortung oder nicht. Aber da war sie schon, leise klirrend, sporenklirrend, hätte man denken können. Noch grüner war ihr Pullover, noch röter schimmerten ihre Wangen. Bebte sie? Gewiß, sie bebte. Ihr Körperbeben übertrug sich auf ihre Stimme, die dennoch entschlossen klang. Dies sei nun aber der rechte Moment. Ein jedes Beisammensein müsse einmal. Daher beende sie hiermit, und sie glaube im Namen aller zu sprechen. Die Dankesformel. Die Blumen: fünf Gerberastiele, in Asparagis eingebunden. Einen guten Nachhauseweg allerseits.
    Doch blieb man sitzen. Hatte Frau K. sich geirrt? War es doch nicht der rechte Moment? Andererseits: Worauf wartete man noch? Das wußte keiner, aber als der alte Mann in der zweiten Reihe sich erhob, der aussah wie ein Arbeiterveteran, da schien man gerade auf ihn gewartet zu haben. Erwolle nur, als der weitaus Älteste in dieser Runde, sich das Recht nehmen zu einer kleinen Freundlichkeit. Damit holte er aus einem uralten Leinenbeutel einen flachen, in Seidenpapier gewickelten Karton, den er mir überreichte. Jetzt konnte gelacht, geklatscht werden, man konnte aufstehen und sich allmählich zerstreuen. Einige brachten Bücher zum Signieren nach vorn, unter ihnen die junge Frau, die nach unserer Zukunft gefragt

Weitere Kostenlose Bücher