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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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es war ihr Ernst, das erbitterte mich am meisten in meinem Traum. Da man sich einen Traum nicht verbieten, wohl auch nicht vorwerfen kann, lachte ich auf, um mir zu beweisen, daß ich eigentlich schon über den Dingen stand. Das Lachen klang gezwungen.
    Keine Angst. Meine andere Sprache, dachte ich, weiter darauf aus, mich zu täuschen, während ich das Geschirr in das Spülbecken stellte, mein Bett machte, ins vordere Zimmer zurückging und endlich am Schreibtisch saß – meine andere Sprache, die in mir zu wachsen begonnen hatte, zu ihrer vollen Ausbildung aber noch nicht gekommen war, würde gelassen das Sichtbare dem Unsichtbaren opfern, würde aufhören, die Gegenstände durch ihr Aussehen zu beschreiben – tomatenrote, weiße Autos, lieber Himmel! – und würde, mehr undmehr, das unsichtbare Wesentliche aufscheinen lassen. Zupackend würde diese Sprache sein, soviel glaubte ich immerhin zu ahnen, schonend und liebevoll. Niemandem würde sie weh tun als mir selbst. Mir dämmerte, warum ich über diese Zettel, über einzelne Sätze nicht hinauskam. Ich gab vor, ihnen nachzuhängen. In Wirklichkeit dachte ich nichts.
    Sie standen wieder da.
    Es war neun Uhr fünf. Seit drei Minuten standen sie wieder da, ich hatte es sofort gemerkt. Ich hatte einen Ruck gespürt, den Ausschlag eines Zeigers in mir, der nachzitterte. Ein Blick, beinahe überflüssig, bestätigte es. Die Farbe des Autos war heute ein gedecktes Grün, seine Besatzung bestand aus drei jungen Herren. Ob diese Herren ausgewechselt wurden wie die Autos? Und was wäre mir lieber gewesen – daß es immer dieselben waren oder immer andere? Ich kannte sie nicht, das heißt, doch, einen kannte ich: den, der neulich ausgestiegen und über die Straße auf mich zu gekommen war, allerdings nur, um sich an dem Bockwurststand unter unserem Fenster anzustellen, und der mit drei Bockwürsten auf einem großen Pappteller und mit drei Schrippen in den Taschen seiner graugrünen Kutte zu dem Auto zurückgekehrt war. Zu einem blauen Auto, übrigens, mit der Nummer... Ich suchte den Zettel, auf dem ich die Autonummern notierte, wenn ich sie erkennen konnte. Dieserjunge Herr oder Genosse hatte dunkles Haar gehabt, das sich am Scheitel zu lichten begann, das hatte ich von oben sehen können. Einen Augenblick lang hatte ich mir in der Vorstellung gefallen, daß ich als erste die beginnende Glatze des jungen Herrn bemerkte, eher als seine eigene Frau, die womöglich nie derart aufmerksam auf ihn herabsah. Ich hatte mir vorstellen müssen, wie sie dann gemütlich in ihrem Auto beieinanderhockten (im Auto kann es ja sehr gemütlich sein, besonders wenn draußen Wind geht und sogar einzelne Tropfen fallen), wie sie die Bockwürste aufaßen und nicht einmal frieren mußten, denn der Motor lief leise und heizte ihnen ein. Aber was tranken sie dazu? Führten sie, wie andere Werktätige, jeder eine Thermosflasche voll Kaffee mit?
    Unsere Empfindungen bei solchen Gelegenheiten sind kompliziert. Und die richtigen Wörter hatte ich immer noch nicht, immer noch waren es Wörter aus dem äußeren Kreis, sie trafen zu, aber sie trafen nicht, sie griffen Tatsachen auf, um das Tatsächliche zu vertuschen, so unbekümmert würde ich nicht mehr lange drauflos reden können, aber was ist einer, der nicht unbekümmert ist? Bekümmert? Kummervoll? »Kummer«, las ich in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch, immer tiefer hineintreibend in meine Besessenheit: »Kummer« habe im Mittelhochdeutschen »Schutt, Beschlagnahme, Not«, in der älteren Rechtssprache sogar»Arrest« bedeuten können. Beschlagnahme, ja, das traf es, in Beschlag genommen dahinkümmern. »Es reuete ihn, daß er die Menschen gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.« Doktor Martin Luther, der mir weismachen wollte, daß wir nur zustimmen oder ablehnen, Freund oder Feind sein können. Deine Rede sei ja, ja und nein, nein.
    Was darüber ist, ist vom Übel. Des Doktor Luther Geschimpf auf den Papst, die gefräßige Sau, dann auf die Bauern, die tollwütigen Hunde. Glücklicher Mensch, der seinen Erzfeind aus sich herausstellen kann. In meiner Sprache werden Tiernamen nur auf Tiere angewendet werden, nie würde ich, wie andere es taten, die Namen von Schweinen und Hunden, nicht einmal die von Frettchen oder Reptilien auf die jungen Herren da draußen münzen können. Was mir fehlte, war wahrscheinlich ein gesunder nivellierender Haß.
    Ich kannte sie ja nicht. Was wußte ich schon von ihnen. Selbst das

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