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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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auch zu Fuß folgen. Ich konnte in der Schaufensterscheibe des Kosmetikladens keinen Verdächtigen entdecken. Mit leiser Bestürzung beobachtete ich, wie ich anfing, aufzuatmen. Die Achmatowa, hatte ein Spezialist für russische Literatur mir versichert, habe zwanzig Jahre lang einen persönlichen Begleiter gehabt. Dies stellte ich mir nun vor, während ich unverfolgt und unbegleitet wie ein normaler Mensch die Friedrichstraße hinunterging und mich fragen mußte, wodurch ich dieses Vorrecht verdiente. Eine Ahnung dämmerte mir, von welch strenger, absoluter Art die Freiheit im innersten Innern lückenloser Einkreisung sein mag. Mir hatten sie nicht einmal die Instrumente gezeigt, dachte ich. Aber wie kam ich darauf. Ja: Sie spielten im Berliner Ensemble am Abend den »Galilei«, es stand in großen Buchstabenschwarz auf weißer Leinwand, und niemand hinderte sie daran, denn dies war ein Stück aus der Zeit, in der die reinliche Dialektik noch Geltung hatte, ebenso wie die Wörter »positiv« und »negativ«, und in der es einen Sinn hatte, die »Wahrheit« auszusprechen, und böse war, sie zu verschweigen, nicht zu reden von der gemeinen Lüge, die vom Übel war und dem Lügner ein schlechtes Gewissen machte, von dem Reste sich sogar bis auf unsere Tage hinübergerettet haben. Eine Geschichte des schlechten Gewissens, dachte ich, wäre einzubeziehen in das Nachdenken über die Grenzen des Sagbaren; mit welchen Wörtern beschreibt man die Sprachlosigkeit des Gewissenlosen, wie geht, fragte ich mich, Sprache mit nicht Vorhandenem um, das keine Eigenschaftswörter, keine Substantive an sich duldet, denn es ist eigenschaftslos, und das Subjekt fehlt ihm durchaus, so wie das gewissenlose Subjekt sich selber fehlt, dachte ich weiter, doch stimmte das überhaupt? Suchte ich nicht nur nach Vorwänden, jene vielleicht doch nicht eigenschaftslosen jungen Männer aus meinem Mitgefühl auszustoßen, weil sie mich aus dem ihren ausgestoßen hatten? Wie du mir, so ich dir. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Meine neue Sprache, dachte ich gegen mich selbst, müßte auch von ihnen sprechen können, wie sie sich jeglicher Sprachohnmacht annehmen sollte.
    Über die Weidendammer Brücke ging ich immerwieder gerne. Der arme BB , mit seinem Glauben an den Unglauben, den er »Wissenschaft« nennt, mit seinen entschlossenen Teilungsversuchen, mit denen er sich, wie mit dem Handbeil, eine Schneise durch das Dickicht der Städte und Länder schlägt, überzeugt, längs dieser Wunde werde die Welt in ihre zwei Hälften auseinanderfallen. Aber hinter ihm schlägt der Urwald zusammen, und vor uns tut sich der Abgrund auf. Galilei, listig und furchtsam, entzieht sich der Inquisition und rettet sein Werk. Die Kirche, die ihn zu vernichten droht, hat ihm immerhin die Waffe geliefert, mit deren Hilfe er gegen sie standhalten kann: den Glauben an den Sinn der Wahrheit. Er mußte nur mit der Angst fertig werden. Eine reine Charakterfrage also, ob er gegen die Lüge antrat. Wir, angstvoll doch auch, dazu noch ungläubig, traten immer gegen uns selber an, denn es log und katzbuckelte und geiferte und verleumdete aus uns heraus, und es gierte nach Unterwerfung und nach Genuß. Nur: Die einen wußten es, und die anderen wußten es nicht.
    Über das Brückengeländer gebeugt, sah ich die Enten und Möwen, einen Lastkahn mit schwarzrotgoldener Flagge. Wind ging, wie meistens. Am Scheitelpunkt der Brücke hängt der gußeiserne Preußenadler, der mir spöttisch entgegensah und den ich im Vorbeigehen leicht mit der Hand anrührte. Wie immer, wenn ich über diese Brücke lief, kamen die endlosen Gänge mir wieder in den Sinn,die mich damals, vor mehr als zwei Jahren, durch diese Straßen getrieben hatten, und ich erinnerte mich, wie ich mich schamlos nach Ruhe gesehnt hatte, um beinahe jeden Preis, und daß ich nicht einmal die Erinnerung an Freude, Glück hatte ertragen können und daß ich, wenn im Fernsehen ein Film gezeigt wurde, in dem eine Hoffnung eingefangen war, der ich auch einst angehangen hatte, ohne weiteres in Tränen ausbrechen konnte, und nie würde ich den Augenblick vergessen – blicklos stand ich gerade vor dem Schaufenster einer gewöhnlichen Drogerie – als, wie ein Blitz, die Erkenntnis mich traf, daß es der Schmerz war, der mich umtrieb. Ich hatte ihn nicht erkannt. Der rasende, blanke Schmerz hatte von mir Besitz ergriffen, sich in mir eingenistet und ein anderes Wesen aus mir gemacht.
    Zeitlich fiel das ja mit dem Auftauchen der jungen

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