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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Tabletten. Die Träume. Das ließe sich wohl schildern, doch wozu? Es gab ganz andere Ängste auf der Welt. Das Haar, wie es büschelweise ausging. Na und? Inzwischen war es dichter nachgewachsenals zuvor, und die Tabletten lagen unbenutzt in der Schublade. Alles renkte sich ein. Die Träume. Das ja. Das bestritt ich mir nicht, aber wo auf der Welt können Menschen heutzutage ohne Alpträume leben? Nein. Jeden Tag sagte ich mir, ein bevorzugtes Leben wie das meine ließe sich nur durch den Versuch rechtfertigen, hin und wieder die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, der Tatsache eingedenk, daß Grenzverletzungen aller Art geahndet werden. Doch, sagte ich mir, während mir bewußt wurde, daß ich seit Minuten schon auf den Fernsehturm starrte, der sich halbrechts in meinem Gesichtsfeld über dem Häusermassiv von Augen- und Frauenklinik erhob, doch der Sprachgrenze würde ich mich erst nähern, wenn ich mir zutraute zu erklären, warum an jenen Tagen, an denen die Autos nicht in Wirklichkeit, nur als Phantombild auf meiner Netzhaut vorhanden waren, die Angst nicht von mir wich, nicht einmal geringer war als an Tagen der offensichtlichen Observation. Dazu, dachte ich, müßte ich mir mal was einfallen lassen, egal in welcher Sprache.
    Wieviel Zeit wollte ich mir eigentlich noch geben?
    Zeit war eines meiner Stichworte. Eines Tages war mir klar geworden, daß es vielleicht mehr als alles andere ein gründlich anderes Verhältnis zur Zeit war, das mich von jenen jungen Herren da draußen – sie standen noch dort, ja doch! – unterschied.Jenen nämlich war ihre Zeit wertlos, sie vergeudeten sie in einem unsinnigen, gewiß aber kostspieligen Müßiggang, der sie doch auf die Dauer demoralisieren mußte, aber das schien ihnen ja nichts auszumachen oder ihnen, im Gegenteil, die Vermutung kam mir plötzlich, gerade recht zu sein. Mit beiden Händen, lustvoll geradezu, warfen sie ihre Zeit zum Fenster hinaus; oder nannten sie das womöglich Arbeit, was sie taten? Vorstellbar war sogar das. Vorstellbar, nein: wahrscheinlich war es, daß sie abends ihrer Frau ein Gesicht zeigten, aus dem abzulesen war, wie unersetzlich sie sich an diesem Tag wieder hatten machen dürfen. Allerdings hörte man auch gerüchtweise, daß sich manchmal einer von ihnen am Abendbrottisch, in Gegenwart der halbwüchsigen Kinder, mit den Erkenntnissen des Tages brüstete: menschliche Schwächen der observierten Objekte, abstruse Liebesaffären zum Beispiel, die, dürfte man reden, manchen oder manche ganz schön in die Bredouille brächten. Doch schwieg man zuverlässig wie ein Grab. Man schwieg wirklich, davon war ich überzeugt. Bramabarsierende Väter die Ausnahme. In Wirklichkeit mußten sie alle wissen, daß sie, jeder von ihnen, von einer Sekunde zur anderen überflüssig werden konnten.
    Jedesmal, wenn mir dieser Gedanke kam, wurde mir kalt wie beim erstenmal.
    Das Telefon. Ein Freund. Grüß dich, sagte ich. Nein, er störe mich bei keiner wichtigen Arbeit.Warum denn nicht, sagte er strafend. Ach, sagte ich, die Frage ließe sich nicht in einem Satz beantworten. Ich könne ruhig mehrere Sätze machen, sagte er. Zum Mitschreiben, sagte ich. Aber da unterschätze ich doch wohl unsere technischen Möglichkeiten, sagte er. Ein Tonband werde man für uns beide doch übrig haben! Was das kostet, sagte ich.
    Folgte die Art von Lachen, die wir uns für genau diese Gelegenheiten angewöhnt hatten, ein bißchen herausfordernd, ein bißchen eitel. Und wenn keiner mithörte? Wenn wir mit unserer Selbstüberschätzung und Mutspielerei ins Leere liefen? Das würde nicht den geringsten Unterschied machen. Darüber wollte ich nachdenken.
    Wie ich denn klinge, heute morgen.
    Na wie denn?
    Na, sagte mein Freund, nicht unbedingt high, würde ich sprechen. Oder täuschet mich mein Ohr.
    O, sagte ich, wie könnte ich anders als high sein, wenn du mich schon mal anrufst – und so weiter.
    So sprachen wir immer, am wahren Text vorbei. Ich mußte an die zwei, drei Male denken, als der wahre Text mir doch entschlüpft war, weil ich keine Kraft hatte, ihn zurückzuhalten, und wie seine Augen, seine Stimme sich da verändert hatten. Wie es H. gehe, fragte er jetzt. Gut, sagte ich, ich kann ihn nachmittags besuchen. Und wir, Madame? fragte er. Wann sehen wir uns? Ich sagteden wahren Text: Möglichst bald. Na denn, sagte er. Er werde in den nächsten Tagen in der Stadt sein und mir vorher durchgeben, wann ich das Kaffeewasser aufsetzen solle. Da sollten sich gewisse

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