Was dein Herz nicht weiß
trotteten, war es ruhiger. Die Straßenhändler sahen angeschlagen aus, genau wie ihre Waren. Ein paar Krüppel saßen vor einem Feuer und hörten Radio. In der Ferne ratterte eine Straßenbahn vorbei, deren Oberleitung den Himmel in zwei Teile zerschnitt.
Jae-Hwa, die inzwischen müde, hungrig und verwirrt war, sagte zu Soo-Ja: »Warum folgt er uns bloß? Sollen wir jemanden um Hilfe bitten?«
»Hör mal, er folgt uns doch überhaupt nicht. Wir führen ihn.«
»Was meinst du damit?«
»Ich führe ihn an einen Ort, wo man sich um Kkang-pae wie ihn kümmern wird.«
»Wohin gehen wir denn?«
»Das wird eine nette Überraschung für unseren neuen Freund.«
Soo-Ja griff nach Jae-Hwas Hand und übernahm wieder die Führung. Sie wusste, dass sie nur wenige Blocks von ihrem Ziel entfernt war – der Polizeiwache.
Soo-Ja wartete, bis der Fremde um die Ecke kam. Sie stand direkt vor der Wache – einem einstöckigen Ziegelhaus mit hohen Fenstern und spitzem Vordach. Neben ihr wartete ein Polizist in Lauerstellung darauf, die beiden jungen Mädchen heldenhaft zu verteidigen. Und er schien gut dafür geeignet: Er war kräftig, hatte starke Hände und seine Dienstmütze tief in die Stirn gezogen. Die Uniform passte ihm wie angegossen, und auf der Brust glitzerten seine Abzeichen.
Als der Fremde endlich um die Ecke gebogen war und merkte, wohin Soo-Ja ihn geführt hatte, begriff er die Pointe der Geschichte und wollte fliehen. Doch der Polizist stürzte sich auf ihn; seine Arme und Hände schienen überall zu sein, wie bei einem Oktopus. Der Mann in Weiß wehrte sich mit Ellenbogen und Fäusten so gut er konnte, bereit, davonzulaufen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Aber im Vergleich zu dem großen Polizisten, der ihm immer wieder einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste, sah er aus wie ein Teenager.
» I-nom-a! Du läufst also gerne Mädchen hinterher, was? Wie fändest du es, wenn ich dir den ganzen Tag hinterherlaufen würde?«
Soo-Ja erkannte die komplizierten Mechanismen des Kampfes, beobachtete, wie der Polizist seinen Gegner lächerlich machte, indem er ihn wiederholt losließ und wieder einfing. Der junge Mann zappelte wie ein kleines Kind, das von seinem Vater beim Schlafittchen gepackt wurde. Soo-Ja konnte den Frust in seinen Augen sehen und seine langen, verzweifelten Atemzüge.
Er hatte sie durch die Gassen von Won-dae-don gejagt, nur um am Ende selbst in die Falle zu laufen. Schließlich warf der Polizist den jungen Mann zu Boden, sodass er mit dem Gesicht im Dreck landete, und stellte ihm dann einen Fuß auf den Brustkorb.
Soo-Ja sah, dass der Fremde in Weiß noch ziemlich jung war – vermutlich in ihrem Alter, einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Er sah gut aus, hatte eine kleine Stupsnase, volle Lippen und strahlende Augen. Sein ovales Gesicht wirkte wie gemalt, und ein Grübchen zierte das ebenmäßige Kinn. Soo-Ja hatte Mitleid mit ihm, und als der Polizist endlich von ihm abließ, war sie erleichtert.
»Warum bist du den Mädchen gefolgt?«, fragte der Polizist.
Der Fremde hustete kurz und begann dann zu reden.
»Ich wollte bloß rausfinden, wo sie wohnt«, keuchte er. Der Polizist schaute Soo-Ja an, die jetzt doppelt froh war, dass sie ihn nicht zu sich nach Hause geführt hatte.
Dann wandte der Polizist sich wieder dem Fremden zu. »Und warum?«
»Weil ich ein anderes Mal wiederkommen und sie um etwas bitten wollte.«
»Um was?«, bellte der Polizist und versetzte dem jungen Mann einen weiteren Schlag auf den Hinterkopf.
»Um ein Rendezvous«, antwortete der Junge endlich und wand sich, um den großen behandschuhten Händen des Polizisten auszuweichen.
Inzwischen hatte sich eine Menschentraube um sie herum gebildet, und damit handelte es sich nun ganz offiziell um eine Szene. Die anderen Polizisten betrachteten Soo-Ja. Innerhalb einer Sekunde war die Stimmung gekippt: Jetzt versetzten sie sich selbst in die Lage des jungen Mannes und sympathisierten mit ihm, feuerten ihn gar an.
»Warum haben Sie uns dann nicht ganz normal angesprochen?«, wollte Jae-Hwa von ihm wissen. »Wieso haben Sie uns verfolgt und zu Tode erschreckt?«
Langsam rappelte der junge Mann sich auf. Er musste gespürt haben, dass das Blatt sich wendete und er mit jeder Minute besser dastand. Jetzt klopfte er sich den Staub von den Kleidern und blickte Soo-Ja an. Seine weiße Jacke war längst nicht mehr weiß, sondern mit einem Gemisch aus Sand, Schmutz und Blut verschmiert. Doch selbst in diesem Zustand, mit rotem
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