Was die Toten wissen
völlig lethargisch.«
Miriam schüttelte den Kopf: »Dann sind wir ja schon zu zweit. Ich bin ebenfalls wie betäubt. Ich habe mir die ganze Zeit eingeredet, dass es nicht wahr sein kann, dass sie eine Betrügerin sein muss. Ich dachte, ich würde mich … keinen falschen Hoffnungen hingeben. Jetzt wird mir bewusst, dass ich unbedingt will, dass sie meine Tochter ist; dass ich dachte, wenn ich hierherkomme, würde sich alles als wahr herausstellen.«
»Natürlich macht man sich Hoffnungen«, sagte Lenhardt. »Alle Eltern würden das. Kommen Sie doch morgen wieder. Dann werden wir eine ganze Menge mehr wissen. Ob Tony und Ruth sich haben scheiden lassen, vor welchem Gericht das
war, derartige Dinge. Wir können Ruths Mitschüler aufspüren, selbst wenn es die Gemeinde nicht mehr gibt. Zum ersten Mal haben wir ernstzunehmende Anhaltspunkte, solide.«
»Das ist bestimmt nicht Heather«, warf Willoughby ein, »aber sie kennt die Antworten. Sie weiß, was passiert ist, wenn auch nur aus zweiter Hand. Vielleicht hat Dunham seiner Schwiegertochter alles gestanden, nachdem er von seiner schweren Krankheit erfahren hatte, vielleicht war sie seine Vertraute.«
Miriam sackte in Lenhardts Sessel zusammen. Jetzt sah sie so alt aus, wie sie war, ja sogar noch älter; von ihrer aufrechten Haltung war nichts übrig, ihre Augen waren eingesunken. Infante wollte ihr sagen, dass sie eine Menge beigetragen habe durch ihr Kommen, dass es die Reise wert gewesen sei, aber er war sich nicht sicher, ob es auch stimmte. Sie hätten so oder so irgendwann Dunhams Zimmer durchsucht, auch wenn Miriam die Verbindung zwischen ihnen nicht hergestellt hätte. Als der Name des alten Mannes zum ersten Mal fiel, war ein Besuch aufgrund seiner Demenz nicht dringlich genug erschienen, aber sie hätten auch so bald begonnen, ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Teufel noch mal, bis heute Nachmittag hatte sich Infante nicht vorstellen können, dass Dunham mit irgendwem in Verbindung stand, von Tony Dunham und der unauffindbaren Penelope Jackson einmal abgesehen. Es war die einzige Verbindung, die sie entdeckt hatten, die Verbindung der Geheimnisvollen mit Penelope Jackson mit Tony Dunham mit Stan Dunham.
Dennoch, wenn er ehrlich war, musste er seine Entscheidung, Stan Dunham nicht sofort aufzusuchen, im Nachhinein in Frage stellen. Lag es etwa daran, dass Stan Dunham Polizist gewesen war? Hatte Infante gezögert, weil er es einfach nicht glauben konnte, dass einer von ihnen mit einem derart üblen Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden konnte? Hätten sie die Unbekannte gleich am ersten Abend verhaften und
ins Untersuchungsgefängnis stecken sollen, in der Hoffnung, dass dies sie schon zum Reden bringen würde? Sie hatte alle an der Nase herumgeführt, einschließlich Gloria, ihrer eigenen Anwältin; sie hatte sie alle hingehalten und nach einem Trick gesucht, wie sie ihnen nicht erzählen musste, wer sie war. Aber sie war nicht so mutig oder durchtrieben, dass sie es auch bei der Mutter machen würde. Vielleicht war da ein letzter Funke von Anstand, eine Grenze, die sie nicht überschritt. Sie war weggelaufen, weil sie sich der Mutter nicht stellen wollte.
Oder aber sie war weggelaufen, weil sie glaubte, dass Miriam mit einem Blick sagen konnte, was ihnen die ganze Woche über nicht gelungen war – sie konnte mit Sicherheit ausschließen, dass sie Heather Bethany war.
»Führen Sie sie an mir vorbei«, sagte Miriam leise. »Ich will nicht mit ihr reden, das heißt, natürlich will ich das, ich will sie anschreien, ihr tausend Fragen stellen, und dann noch mehr schreien, aber ich verstehe natürlich, dass ich nichts davon tun soll. Ich will sie einfach nur sehen.«
Miriam wartete im Eingangsbereich des Polizeipräsidiums. Sie überlegte einen Moment, ob sie eine Sonnenbrille aufsetzen sollte, und lachte dann beinahe lauthals über ihre eigene Theatralik. Die Frau kannte sie ja gar nicht. Falls sie Miriam jemals zuvor gesehen hatte, war es auf früheren Fotos gewesen, und obwohl Miriam kaum gealtert war, würde sie trotzdem niemand für die Achtunddreißigjährige von damals halten. In der Tat hatte sie mit neununddreißig bereits ganz anders ausgesehen. Sie erinnerte sich, wie ihr aufgefallen war, wie sehr sie sich verändert hatte, als sie ihr Foto am ersten Jahrestag in der Zeitung gesehen hatte; dass ihre Gesichtszüge plötzlich ganz anders waren. Es lag nicht am Alter oder am Gram, es war etwas Tiefergehendes, fast so, als ob sie
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