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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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besaß, nie mit Namen versehen oder mit Monogrammen bestickt, obwohl man ihr genau das für ihre Geschirrhandtücher und Schürzen nahegelegt hatte, als sie noch ein Teenager war und mit Tony Dunham verlobt. »Klar, Tante, ich kann die verfluchte Aussteuertruhe kaum erwarten.« Für das Fluchen bekam sie eine Ohrfeige, für das, was im Schlafzimmer
geschah, nicht. Was für eine Familie. Was für ein gottverdammtes Chaos sich hinter karierten Vorhängen und Blumenkästen mit Petunien verbarg.
    Sie hätte gern etwas Geld oder wenigstens eine Kreditkarte gehabt. Ach, wenn sie bloß an diesem Abend nicht so verwirrt und orientierungslos gewesen wäre. Dann hätte sie sich bestimmt aus der Sache mit der Unfallflucht herausreden können, selbst ohne Führerschein in einem Auto, das nicht ihr gehörte. Auf der anderen Seite hätte es sie nicht gewundert, nach allem, was sie von Penelope wusste, wenn die Zulassung abgelaufen gewesen wäre oder sich Strafanzeigen wegen Falschparkens in irgendeinem Computer gehäuft hätten.
    Sie schaute noch einmal über ihre Schulter. Kay stand bei der Spüle in der Küche und trank Kaffee. Verdammt. Dann musste sie doch nach oben. Und dann?
     
    Es war gar nicht so einfach, das Badezimmerfenster mit nur einem Arm hochzuschieben, und noch schwerer, sich durch die winzige Öffnung zu quetschen und sich einen Stock tiefer fallen zu lassen, aber sie schaffte es. Adrenalin war etwas Faszinierendes. Sie wischte sich den Dreck von den Knien, eigentlich von Grace’ Hose, und richtete sich auf. Es tat ihr wirklich leid, dass sie einem jungen Mädchen die Lieblingshose wegnahm und dreckig machte. Zur nächsten größeren Straße, der Edmondson, ging es nach rechts. Sie führte direkt zum Highway, aber dort konnte sie nicht trampen. An der Route 40 würde sie eher jemand mitnehmen, aber die verlief von Osten nach Westen, und sie musste Richtung Süden. Es würde ihr schon noch was einfallen. Ihr war noch immer etwas eingefallen.
    Sie schritt forsch aus und rieb sich dabei die Arme. Es würde kalt werden nach Sonnenuntergang, aber vielleicht hatte sie ja Glück und war bis dahin zu Hause. Wenn sie jemand zum Bahnhof mitnehmen würde und sie dort in den Zug steigen
könnte – verkehrten die Nahverkehrszüge überhaupt sonntags? Amtrak auf jeden Fall, und wenn sie sie nicht vor New Carrollton erwischten, könnte es klappen. Irgendwie würde es ihr schon gelingen, den Schaffner im Nahverkehrszug einige Stationen hinzuhalten, ihm weiszumachen, sie hätte ihr Ticket verloren, oder vielleicht sogar, dass sie überfallen worden wäre. Aber das war riskant, weil er dann bestimmt wollte, dass sie zur Polizei ging. Wäre sie doch nur schon Dienstag wie geplant in den Zug gestiegen. Sie konnte dem Schaffner erzählen, dass sie sich … mit ihrem Freund im Auto gestritten und der Kerl einfach angehalten und sie rausgeworfen habe. Und jetzt sei sie aufgeschmissen und müsse irgendwie nach Hause kommen. Diese Story konnte sie verkaufen. Zum Teufel, sie hatte mal mitbekommen, wie eine Obdachlose ohne Fahrkarte von Richmond nach Washington fuhr und jedem erzählte, sie wäre mit dem Präsidenten verabredet. Es war nicht so, dass sie einen auf offener Strecke an die Luft setzten, und wenn es ihr gelang, bis nach Washington, zur Union Station, zu kommen, hatte sie gute Karten. Falls nötig würde sie einen Arbeitskollegen oder sogar ihre Vorgesetzte anrufen oder vielleicht auch das Drehkreuz der Metro überspringen, alles nur, um wieder nach Hause zu kommen. Sie musste an sich halten, um nicht zu den befahrenen Straßen zu rennen, wo der Verkehr in beide Richtungen nur so rauschte. Es kam ihr so vor, als würde sie der wirklichen Welt entgegenrennen, einem Ort der Bewegung und des Durcheinanders, wo sie untertauchen konnte; es war, als müsste sie so schnell wie möglich laufen, um die Mauer zwischen ihr und dieser Scheinwelt zu durchbrechen, in der sie die letzten fünf Tage gewesen war.
    Als sie gerade das Ende der kleinen Straße hinter der Garage erreicht hatte, kam ein Streifenwagen angerast, versperrte ihr den Weg, und diese mollige, hochnäsige Kriminalbeamtin stieg aus.
    »Ich habe Sie von unterwegs angerufen«, erklärte Nancy Porter.
»Wir waren uns nicht sicher, ob Sie fliehen würden, aber wir waren neugierig, was Sie wohl tun würden, wenn wir Ihnen erzählen, dass Sie Miriam treffen sollen. Infante wartet am anderen Ende der Straße, und vor der Haustür stand die ganze Zeit ein Streifenpolizist, wie Sie

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