Was die Toten wissen
leicht affektierte Grinsen. Seltsamerweise machte sie das nur noch unattraktiver. »Ich weiß, ich weiß, aber sehen Sie es ihr nach, diese Frau hat Höllenqualen ausgestanden. Sie wird Ihnen alles anvertrauen, wenn Sie nur ein wenig Geduld mit ihr haben. Also geben Sie ihr noch ein, zwei Tage Zeit. Ich sehe es so: Sie hat wahnsinnige Angst davor, ihre momentane Identität preiszugeben. Sie muss Ihnen vertrauen können, bevor sie Ihnen alles erzählt.«
»Warum denn? Was ist daran denn so außergewöhnlich? Oder wird sie etwa wegen eines anderen Verbrechens gesucht?«
»Sie schwört Stein und Bein, dass sie sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Sie will nur nicht auf irgendeinem Fernsehkanal zur – und ich zitiere wörtlich – ›Durchgeknallten der Woche‹ abgestempelt werden. Wenn sie sich erst einmal als Heather Bethany geoutet hat, kann sie ihr bisheriges Leben vergessen. Sie sucht eine Lösung, wie sie Ihnen den Fall übergeben kann, ohne sich dabei selbst preiszugeben.«
»Ich weiß nicht, Gloria. Das überschreitet meine Befugnisse. So etwas muss weiter oben entschieden werden.«
»Wenn Sie sie einlochen, kriegen Sie gar nichts von ihr. Sie wird behaupten, sie habe sich geirrt, und alles auf den Unfall schieben. Eigentlich sollten Sie vor Freude tanzen. Besser könnten die Bedingungen doch gar nicht sein. Sie will es nicht an die große Glocke hängen, was dem Morddezernat nur recht sein kann. Ihr hasst doch jeglichen Medienrummel. Ich bin hier die Verliererin. Ich werde nicht vor laufender Kamera interviewt und seh vielleicht noch nicht mal einen Cent.«
Sie lief zu neuer Form auf, klapperte mit den Augendeckeln und plusterte ihre Lippen zu einer monströsen Schnute auf. Verdammt noch mal, wenn irgendjemand aussah wie Baby Huey, dann war es Gloria mit diesem Schmollmund und dem Riesenzinken im Gesicht.
Kapitel 5
Irgendwo lief das Radio. Oder vielleicht war es der Fernseher aus dem Zimmer nebenan. In ihrem Zimmer war es mucksmäuschenstill, und draußen wurde es langsam dunkel, was sie erholsam fand. Sie dachte an ihre Arbeit. Ob sie wohl vermisst wurde? Gestern hatte sie sich telefonisch krankgemeldet, aber heute wusste sie nicht, was sie tun sollte. Das Guthaben auf
ihrem Handy reichte nicht mehr für ein Ferngespräch, und sie wollte nicht über die Telefonzentrale des Krankenhauses gehen. Den öffentlichen Fernsprecher in der Empfangshalle konnte sie auch nicht benutzen, ohne an dem Wachmann vor der Tür vorbeizumüssen. Wurden die Daten bei Kartentelefonen gespeichert? Sie durfte es nicht riskieren. Sie musste das Einzige, was ihr geblieben war, schützen – das Leben, das sie seit sechzehn Jahren führte. Es war auf dem Tod von jemandem aufgebaut, ja erst dadurch möglich geworden, dass jemand gestorben war. Sechzehn Jahre hatte sie es bereits geschafft, das zu führen, was andere ein normales Leben nannten, und sie war nicht bereit, es so einfach wieder aufzugeben.
Es war kein großartiges Dasein, so viel stand fest. Sie hatte keine wahren Freunde, nur freundliche Kollegen, die ihr zulächelten. Sie hatte noch nicht mal ein Haustier. Aber sie hatte eine Wohnung, klein, spärlich möbliert und aufgeräumt. Sie besaß ein Auto, ihr geliebter Camry, eine der wenigen Anschaffungen, die sie sich zugestanden hatte, wegen des Wegs zur Arbeit, eine Stunde, wenn es gut lief. In letzter Zeit hatte sie während der Fahrt öfter Hörbücher eingelegt. Sie stellte sich ihre Lebensgeschichte als dicken Wälzer vor. Von einer Frau geschrieben. So wie die Bücher von Maeve Binchy, Gail Godwin, Marian Keyes. Pat Conroy war ganz offensichtlich keine Frau, aber er gehörte zu dieser Erzählkategorie, ohne Furcht vor großen Gefühlen und großen Geschichten. Verflixt, sie musste bis Samstag drei der Kassetten in der Bücherei abgeben. Sie war in den sechzehn Jahren nie zu spät dran gewesen – ob bei Zahlungen, Buchausleihen oder Terminen. Sie hätte es sich nicht getraut. Was passierte, wenn man den Abgabetermin überschritt? Ob sie das irgendwo meldeten?
Das war ziemlich weit hergeholt, wie sie aus der Datumsumstellung für das Jahr 2000 wusste, an der sie mitgearbeitet hatte. Aber sie lebte schon lange mit der Angst vor der zentralen Zusammenführung von Daten, vor dem Tag, an dem die
Maschinen sich unterhalten würden, ihre Erfahrungen austauschten. Obwohl sie dafür bezahlt wurde, es zu verhindern, hatte sie im Geheimen nach der Möglichkeit für einen Systemzusammenbruch gestöbert, der alle Daten
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