Was die Toten wissen
schwieg und versuchte nachzurechnen. Vor dreißig Jahren, zwei Schwestern. In welchem Alter? Gloria hatte es nicht erwähnt. Jung offensichtlich, so jung, dass man Weglaufen ausschließen konnte und man von einem Mordfall ausgehen musste. Zwei. Wer entführt gleich zwei auf einmal? Das schien einen Tick zu gewagt zu sein, und noch dazu konnte viel schneller ein Fehler unterlaufen. War das Verschwinden zweier Schwestern nicht ein Indiz dafür, dass es um etwas Persönliches ging, dass irgendjemand ein Hühnchen mit der Familie rupfen wollte?
»Bei Arthur Goode war es ähnlich. Er hat nicht nur einen Jungen entführt«, sagte Gloria, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Aber das war ebenfalls vor deiner Zeit. Er entführte einen Zeitungsjungen hier in Baltimore und zwang ihn zuzusehen, während er... Wenigstens setzte er den Jungen hinterher unverletzt wieder auf freien Fuß. Später ist Goode für ähnliche Verbrechen in Florida hingerichtet worden.«
»Daran erinnere ich mich«, sagte die Frau im Bett, »weil es wie bei uns war und trotzdem anders. Weil wir Schwestern waren. Und weil …«
An dieser Stelle brach sie zusammen. Sie zog die Knie an die Brust, umklammerte sie mit dem Arm, der nicht verbunden war, und heulte los. Schluchzte mit tränenerstickter Stimme.
»Dies ist Heather Bethany«, sagte Gloria. »Oder zumindest hieß sie vor vielen Jahren so. Es ist offenbar sehr lange her, dass sie ihren richtigen Namen benutzt hat.«
»Wo war sie die ganze Zeit über gewesen? Was ist mit ihrer Schwester passiert?«
»Ermordet«, stöhnte die wehklagende Frau. »Umgebracht. Ihr ist vor meinen Augen das Genick gebrochen worden.«
»Und wer hat das getan? Wo ist das passiert?« Infante hatte die ganze Zeit gestanden, jetzt zog er sich jedoch lieber einen Stuhl heran. Er war sich darüber im Klaren, dass er noch Stunden hier sein würde, dass er einen Kassettenrekorder aufstellen, die Aussage der Frau aufnehmen musste. Er fragte sich, ob dieser Fall tatsächlich so sensationell war, wie Gloria behauptete. Aber selbst wenn sie übertrieb, wäre es immer noch ein gefundenes Fressen für die Presse. Sie mussten langsam und behutsam vorgehen. »Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt, und warum rücken Sie erst jetzt damit heraus?«
Sie stützte sich auf den rechten Arm und setzte sich aufrecht hin, dann wischte sie sich mit dem Handrücken über Augen und Nase, wie ein Kind.
»Es tut mir leid, aber ich kann es Ihnen nicht sagen, unmöglich. Ich hätte überhaupt nichts erzählen dürfen.«
Infante warf Gloria einen Blick zu, der besagte: Verflucht, was soll denn das? Wieder zuckte sie nur ratlos mit den Schultern.
»Sie will gar nicht Heather Bethany sein«, sagte Gloria. »Sie hat sich ein eigenes Leben aufgebaut und möchte die Vergangenheit hinter sich lassen. Ihre Schwester ist tot. Sie sagt, ihre Eltern ebenfalls, und das deckt sich auch mit meiner Erinnerung. Es gibt keine Heather Bethany mehr, wie auch immer es dazu gekommen sein mag.«
»Ganz gleich, wie sie sich jetzt nennt, ganz gleich, wo sie gesteckt hat, sie ist nach ihrer eigenen Aussage Zeugin des Mordes an... Wie alt war Ihre Schwester damals?«
»Fünfzehn, und ich war fast zwölf.«
»Des Mordes an einem fünfzehnjährigen Mädchen. Sie kann nicht einfach so eine Bombe fallen lassen und wieder abtauchen.«
»Es gibt niemanden, den man verhaften könnte«, sagte die Frau im Bett. »Er ist weg. Alle sind längst verschwunden. Das alles hat gar nichts zu bedeuten. Ich habe mir den Kopf gestoßen. Ich habe etwas erzählt, was ich niemals hätte erzählen sollen. Lassen Sie es uns einfach vergessen, in Ordnung?«
Infante gab Gloria zu verstehen, dass sie ihm auf den Flur folgen sollte.
»Wer ist die Frau?«
»Heather Bethany.«
»Nein, ich meine, wie nennt sie sich heute? Wo wohnt sie? Was macht sie hier? Der Polizist, der sie ins Krankenhaus gebracht hat, sagte, der Wagen sei auf eine Penelope Jackson zugelassen. Ist sie das?«
»Selbst wenn ich es wüsste, und ich sag nicht, dass ich es weiß, bin ich nicht befugt, Ihnen das mitzuteilen.«
»Scheiß auf befugt. Die Rechtsprechung ist in diesem Fall eindeutig, Gloria, bis ganz nach oben zum verdammten Obersten Gerichtshof. Sie ist Auto gefahren. Sie war in einen Unfall verwickelt. Sie muss sich ausweisen. Weigert sie sich, geht sie direkt vom Krankenhaus in den Knast.«
Gloria vergaß für einen Augenblick ihr einstudiertes schelmisches Verhalten, die hochgezogene Augenbraue, das
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