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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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ihr gemeint. Wenigstens er. Und sie ? Irene war froh, sie loszuwerden. Die mochte Heather sowieso nicht leiden. Nicht wegen der Verstellung, die ihr abverlangt wurde, sondern wegen der Vorgänge im Haus selbst. Sie meckerte wegen der Schuhe auf dem Bett, und sie bestand darauf, dass sie die Musik bis zum Flüsterton herunterdrehte. Sie bot weder Trost noch Salbe für die Blutergüsse, half noch nicht einmal mit einer vernünftigen Ausrede, wenn die Blessuren für jedermann sichtbar waren: die aufgeplatzte Lippe, das blaue Auge, der hinkende Gang. Das hast du dir selbst zuzuschreiben , wollte Irene anscheinend mit ihrer Gefühllosigkeit vermitteln. Das hast du dir selbst aufgeladen und dabei meine Familie zerstört . Empört gab sie zurück: Ich bin ein kleines Mädchen! Ich bin nur ein kleines Mädchen! Aber sie hütete sich davor, Irene gegenüber die Stimme zu erheben.
    Die Musik übertönte alles. Selbst wenn sie nur ganz leise lief, die Musik sorgte dafür, dass alles verschwand – die Attacken auf Körper und Seele, die Erschöpfung, die von dem Doppelleben herrührte, eigentlich sogar einem Dreifachleben, sein trauriger Blick jeden Morgen. Mach, dass es aufhört, flehte sie ihn stumm an, jeden Morgen am runden Frühstückstisch, so heimelig und gemütlich; genau das, was sie immer hatte haben wollen. Bitte, mach, dass es aufhört. Sein Blick
sagte: Ich kann nicht. Aber beide wussten, dass es eine Lüge war. Er hatte damit angefangen, und er war der Einzige, der es beenden konnte. Zum Schluss bewies er, dass er sie sehr wohl hätte retten können, aber da war es zu spät. Als er sie endlich gehen ließ, war sie völlig am Boden zerstört, noch zertrümmerter als die Köpfe von Irenes Porzellanpuppen, die sie an einem strahlenden Herbstnachmittag mit einem Schürhaken zerschmettert hatte. Da hatte Irene schließlich doch die Haltung verloren und war schreiend auf sie losgegangen, und sogar er hatte vorgegeben, nicht verstehen zu können, warum sie so etwas tat.
    »Sie glotzten mich nur noch an«, sagte sie.
    Das eigentliche Problem war aber, dass sie niemand ansah, dass niemand hinsah. Tagtäglich trat sie in die Welt hinaus, nur mit einem anderen Namen und einer anderen Haarfarbe getarnt – und keinem fiel jemals etwas auf. Sie kam an den Frühstückstisch, Schmerzen an Stellen, die sie kaum kannte, und alles, was jemals gesprochen wurde, war: »Willst du Gelee auf deinen Toast?« Oder: »Es ist kalt heute Morgen, deshalb habe ich heiße Schokolade gemacht.« See me , sang Roger Daltrey aus ihrem kleinen roten Kassettenrekorder. See me. Irene rief von unten: Stell diesen Krach leiser . Sie schrie zurück: Es ist eine Oper, ich höre mir eine Oper an . Werd nicht frech. Mach, dass du deine Hausarbeit geregelt kriegst .
    Hausarbeit. Ja, sie hatte eine Menge Arbeiten zu verrichten, und sie waren am Abend noch nicht zu Ende. Manchmal stellte sie eine Hass-Liste auf, und Irene stand dort immer auf Platz drei, wenn nicht zwei.
    Platz eins war jedoch ihr selbst vorbehalten und niemandem sonst.

Teil II
    DER MANN MIT DER BLAUEN GITARRE(1975)

Kapitel 6
    »Nimm deine Schwester mit«, sagte ihr Vater, sodass beide Mädchen es hörten, damit Sunny es später nicht abstreiten konnte. Sonst hätte ihre Schwester, das wusste Heather genau, zwar brav genickt und sich einverstanden gezeigt, sie dann aber trotzdem zu Hause gelassen. In dieser Hinsicht war Sunny ganz schön gerissen. Sie versuchte es zumindest, aber Heather kam ihr immer gleich auf die Schliche.
    »Wieso denn?«, protestierte Sunny wie vorhergesehen. Dabei hatte sie mit Sicherheit gewusst, dass die Diskussion beendet war, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Es war sinnlos, mit ihrem Vater zu streiten, obwohl es ihm, anders als ihrer Mutter, nichts ausmachte, wenn sie Widerrede gaben. Es machte ihm Spaß, ausführlich mit ihnen zu diskutieren, und er half ihnen sogar, ihre Argumente besser vorzubringen, wie Rechtsanwälte, wobei er sie stets daran erinnerte, dass sie das werden konnten. Sie könnten werden, was immer sie wollten, sagte er ihnen immer wieder. Dennoch bekamen sie bei einer Auseinandersetzung mit ihm niemals Recht. Es war fast wie beim Damespielen, wo er durch leichtes Nicken oder Kopfschütteln die Hand seines Gegners lenkte und dadurch verhinderte, dass die Mädchen katastrophale Züge machten, die Zwei- oder gar Dreifachsprünge zur Folge hatten. Trotzdem, am Ende gewann immer er, selbst wenn er nur noch eine Dame übrig hatte.
    »Heather ist

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