Was die Toten wissen
löschen, das gesamte institutionelle Gedächtnis zerstören würde. Die Einzelteile existierten bereits, es brauchte nur noch jemanden, der sie in Verbindung brachte. Diese Frau – sie heißt wie ein Kind, das 1963 in Florida gestorben ist. Wie seltsam – weil nämlich die Frau, die ihr ähnlich sieht, so heißt wie ein Kind, das 1962 in Nebraska gestorben ist. Und diese Frau wiederum war ein Kind, das 1964 in Kansas gestorben ist. Und diese? Sie war aus Ohio, auch 1962 geboren .
Wenigstens würde es ihr jetzt leichter fallen, sich zu erinnern, wer sie war: Heather Bethany, geboren am 3. April 1963, wohnhaft 1966-78 in der Algonquin Lane. Spitzenschülerin der Dickey-Hill-Grundschule. Wo hatte die Familie zuvor gewohnt? In einer Mietwohnung in Randallstown, aber man würde von ihr nicht erwarten, dass sie sich daran noch erinnerte. Das war der knifflige Teil: nicht zu wissen, an was sie sich erinnern sollte, sich jedoch an das zu erinnern, was sie nicht wissen konnte.
Was noch? Schule Nr. 201, Dickey Hill. Vorhersehbare Zoten über den Namen. Damals zählte die Schule zu den neueren Gebäuden mit Klettergerüsten, Stangen für Klimmzüge, einer Rutschbahn, die im Juni ziemlich heiß wurde, Himmel und Hölle und Vierergitter in Leuchtgelb aufgemalt. Es gab ein Karussell, keins mit Pferden, sondern eines dieser klapperigen aus Metall. Halt, Moment mal, das hatte nicht in der Schule gestanden, sondern irgendwo in der Nähe, an einem aus irgendeinem Grund verbotenen Ort. Bei den Wakefield-Apartments, gleich neben der Schule? Zuerst fiel ihr der ungeteerte Boden wieder ein, weil sie öfter anschob als mitfuhr. Mit gesenktem Haupt, wie ein eingespanntes Pferd, hatte sie sich hinter den Jungs aufgestellt, den linken Arm um den Metallbügel
gelegt, und war losgerannt, bis die Mitfahrenden vor Vergnügen kreischten. Sie sah die Spitzen ihrer … Sie brauchte einen Augenblick, bis ihr die Schuhe wieder in den Sinn kamen. Es waren keine Sportschuhe, deshalb kriegte sie auch Ärger. Sie trug ihre braunen Schulschuhe, sie waren immer braun, weil braun praktisch war. Aber selbst das praktische Braun hatte gegen den rötlichen Staub auf dem Spielplatz keine Chance, besonders nach dem Aprilregen. Sie war mit dreckigen Sohlen nach Hause gekommen, sehr zum Verdruss ihrer Mutter.
Was konnte sie ihnen sonst noch berichten? In diesem Jahr gab es acht sechste Klassen. Heather hatte die nette Mrs. Koger als Klassenlehrerin und schnitt beim jährlichen Grundlagentest bei allem mit 99 Prozent ab. In diesem Herbst machten sie allerlei Versuche. Sie hatte im Gwynns Falls Park vier Flusskrebse gefangen und ein taugliches Aquarium zusammengebastelt, aber die Tiere waren alle gestorben. Ihr Vater stellte die Theorie auf, dass das klare Wasser ein Schock für sie gewesen sein musste, nach der trüben, verdreckten Brühe des Flusses, und die Erforschung dieser These hatte ihr dann doch eine Eins eingebracht. Jetzt, dreißig Jahre später, konnte sie sich vorstellen, wie sich die Flusskrebse gefühlt haben mussten. Man wusste, woran man war, und man hatte, was man brauchte, auch wenn es buchstäblich Abschaum war.
Aber selbstverständlich würden sie das gar nicht von ihr wissen wollen. Sie interessierten sich nicht für die Heather Bethany vor 1975. Sie wollten etwas über die dreißig Jahre, die darauf folgten, erfahren, und sie würden sich nicht mit ein paar Einzelheiten begnügen. Sie würde sie nicht mit kleinen Anekdoten versöhnlich stimmen können. Etwa mit der über ihren Kassettenrekorder. Er war das Erste, was sie sich kaufen durfte, eine Belohnung dafür, dass sie sich sechs Monate lang an die Regeln gehalten, dass sie sich als vertrauenswürdig erwiesen hatte. Gegen den Kassettenrekorder hatten sie nichts einzuwenden, aber sie waren entsetzt über die Kassetten, die
sie außerdem kaufte. The Who, Jethro Tull, sogar ein paar der frühen Punkbands waren dabei. Sie lag für gewöhnlich auf der welligen Tagesdecke, noch in ihrer Schuluniform, und hörte die New York Dolls und später dann The Clash. »Stell das leiser«, befahl man ihr immer. »Nimm die Schuhe vom Bett.« Sie gehorchte, aber dennoch waren alle entsetzt. Vielleicht weil sie wussten, dass sie am liebsten wie Holly in dem Lou-Reed-Song in einen Bus steigen und alles zurücklassen wollte, so wie in »A Walk on the Wild Side«.
Paradoxerweise waren sie es letztendlich, die sie in den Bus setzten und fortschickten, als ob sie eine Kriminelle wäre. Sie hatten es gut mit
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