Was die Toten wissen
erst elf«, sagte er in diesem Tonfall, der bei den Mädchen die Argumentationsstimme hieß. »Sie kann noch nicht alleine zu Hause bleiben. Eure Mutter ist schon zur Arbeit, und ich muss um zehn den Laden aufmachen.«
Den Kopf über den Teller gebeugt, beobachtete Heather unter gesenkten Lidern hervor ihren Vater und ihre Schwester. Reglos wie eine Katze, die es auf ein Eichhörnchen abgesehen hat. Sie war hin- und hergerissen. Normalerweise bestand sie so oft wie möglich auf mehr Freizügigkeit. Sie war schließlich kein Baby mehr. Sie wurde nächste Woche zwölf. Sie konnte doch wohl am Samstagnachmittag mal alleine zu Hause bleiben. Seit ihre Mutter letzten Herbst zu arbeiten angefangen hatte, war Heather jeden Nachmittag mindestens eine Stunde allein zu Hause, und dabei galt es nur zwei Regeln zu befolgen: Finger weg vom Herd! Und: Hausverbot für Freunde! Heather genoss diese Stunde. Sie konnte den Fernseher anstellen und gucken, was sie wollte – meistens Big Valley – und so viele Graham-Crackers in sich hineinstopfen, wie es ihr passte.
Dieses Stück Freiheit hatten ihr ihre Eltern allerdings nicht freiwillig eingeräumt. Sie wollten erst, dass Heather nach dem Unterricht in der Schulbibliothek blieb, bis Sunny sie dort abholte, so wie in der fünften und bereits in der vierten Klasse. Aber Dickey Hill entließ die Kinder um drei, und Sunny kam nicht vor vier von der Highschool nach Hause, jetzt, wo die Busfahrt so lange dauerte. Die Direktorin der Dickey-Hill-Schule hatte Heathers Eltern unmissverständlich mitgeteilt – so hatte ihre Mutter es ausgedrückt, und Heather hatte sich diesen Ausdruck gemerkt -, dass die Bibliothekarin keine Babysitterin sei. Deshalb hatten Heathers Eltern, die auf keinen Fall eine Sonderbehandlung in Anspruch nehmen wollten, beschlossen, dass Heather allein zu Hause bleiben sollte. Und wenn sie jeden Tag von Montag bis Freitag eine Stunde allein bleiben konnte, warum sollte sie dann nicht an einem Samstag drei Stunden allein bleiben können? Fünf wären noch besser gewesen als drei. Vielleicht musste sie ja, wenn sie sich heute durchsetzte, nie mehr einen dieser tödlich langweiligen Samstage im Laden ihres Vaters verbringen, und schon gar nicht mehr in dem Maklerbüro ihrer Mutter.
Aber diese Langzeitperspektive verblich mit der Aussicht auf einen Samstagnachmittag in der Security Square Mall, einem Ort, der für Heather den Reiz des Neuen barg. Ein Jahr lang hatte Sunny darum gekämpft, einmal im Monat samstagnachmittags dort mit Freunden ins Kino gehen zu dürfen. Sunny durfte auch schon babysitten und bekam dafür fünfundsiebzig Cent die Stunde. Heather hoffte, dass sie auch mit dem Babysitten anfangen konnte, wenn sie erst einmal zwölf war, was schon nächste Woche sein würde. Sunny beschwerte sich immer, dass sie Jahre gebraucht hatte, um etwas durchzusetzen, und dass Heather diese Dinge bereits viel früher machen durfte. Na und? Das war eben der Preis des Fortschritts. Heather erinnerte sich nicht mehr, wo sie den Spruch aufgeschnappt hatte, sie fand ihn jedoch gut. Über Fortschritt ließ sich nicht streiten. Es sei denn, es war so etwas wie die geplante Autobahn, die durch den Park verlaufen sollte, dann war Protest angebracht. Aber das lag daran, dass es dort Rotwild und andere Tiere gab. Hier ging es um die Umwelt , die wichtiger war als der Fortschritt.
»Wenn du deine Schwester mitnimmst, kannst du zur Mall«, sagte ihr Vater noch einmal, »oder du bleibst mit ihr zu Hause. Das sind die beiden Möglichkeiten.«
»Wenn ich mit Heather zu Hause bleibe, sollte ich dann nicht was fürs Babysitten kriegen?«, fragte Sunny.
»Familienmitglieder berechnen nichts für das, was sie für die Familie tun«, entgegnete ihr Vater. »Deshalb kriegst du dein Taschengeld auch nicht für irgendwelche Arbeiten, die du übernimmst. Du kriegst dein eigenes Geld, weil deine Mutter und ich anerkennen, dass du Geld zu deiner eigenen Verfügung brauchst, auch wenn wir die Dinge, die du damit kaufst, nicht immer gutheißen. Die Familie ist eine Gemeinschaft zum Wohle des Einzelnen. Deshalb kriegst du auch nichts dafür, dass du dich um deine Schwester kümmerst. Aber ich gebe euch beiden das Geld für den Bus, wenn ihr zur Mall fahren wollt.«
»Hurra«, murmelte Sunny und zerstückelte missmutig ihren Pfannkuchen, ohne wirklich etwas davon zu essen.
»Was hast du gerade gesagt?«, fragte ihr Vater mit einem bedrohlichen Unterton.
»Nichts. Ich nehme Heather mit zur
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