Was die Toten wissen
Die Verwaltung lässt sich da auf nichts ein.«
»Damit spielen Sie der Polizei in die Hände. Wenn sie keine Unterkunft hat, werden sie sie einsperren …«
Heather stieß ein schauerliches, unmenschliches Wimmern aus.
»Was ist mit dem Frauenhaus? Kann sie nicht dorthin?«
»Das ist für misshandelte Frauen da, und Sie wissen ebenso gut wie ich, dass es voll ist.«
»Ich bin misshandelt worden«, sagte Heather. »Zählt das denn nicht?«
»Sie meinen vor dreißig Jahren, richtig?« Kay spürte wieder diesen plötzlichen Anflug von Lüsternheit, das Bedürfnis, ganz genau zu erfahren, was dieser Frau widerfahren war. »Ich glaube kaum …«
»Okay, okay, okay, okay, okay .« Obwohl ihre Worte Einverständnis signalisieren sollten, warf sie dabei den Kopf trotzig hin und her, sodass ihre blonden Locken, so kurz, wie sie waren, auf und ab sprangen. »Ich sage es Ihnen. Ich erzähle es Ihnen, und dann werden Sie verstehen, warum ich auf keinen Fall ins Gefängnis kann. Warum ich diesen Leuten nicht traue, nicht glaube, dass sie mir nichts anhaben wollen.«
»Nicht vor Kay«, befahl Gloria, aber Heather war so aufgebracht, dass sie nicht an sich halten konnte. Sie merkt gar nicht, dass ich da bin , dachte Kay. Oder aber sie weiß es, und es ist ihr egal . War es Offenheit oder Gleichgültigkeit, ein Vertrauensbeweis für Kay oder ein sanfter Wink, dass es ohnehin nicht auf sie ankam?
»Es war ein Polizist, okay? Ein Polizist kam auf mich zu und sagte, meiner Schwester wäre etwas zugestoßen und ich solle schnell mitkommen. Und dann bin ich mitgekommen, und so hat er uns beide gekriegt. Zuerst sie, dann mich. Er hat uns hinten in seinen Lieferwagen gesperrt und ist davongefahren.«
»Ein Mann, der sich als Cop ausgab«, berichtigte Gloria.
»Das war nicht gespielt. Es war ein echter Polizist, hier aus Baltimore, mit einer Dienstmarke und allem Drum und Dran. Obwohl er keine Uniform trug, aber das tun Polizisten ja nicht immer. In der Serie Die Straßen von San Francisco haben Michael Douglas und Karl Malden auch keine Uniform getragen. Er war aber ganz bestimmt ein Polizist, und er sagte, alles würde wieder gut werden, und ich habe ihm geglaubt. Das war der einzige wirkliche Fehler, der mir je unterlaufen ist, dass ich diesem Mann geglaubt habe, und es hat mein Leben zerstört.«
Mit dem letzten Wort »zerstört« brach ein lang gehegter Damm, und Heather brach in solch heftiges Schluchzen aus, dass Gloria vor ihr zurückschreckte und nicht wusste, was sie tun sollte. Was hätte Kay anderes tun sollen als das, was jeder mit ein bisschen Mitgefühl getan hätte, nämlich den Arm um Heather zu legen und sie zu trösten; ganz vorsichtig, weil Heathers linker Unterarm von dem Autounfall immer noch wehtat.
»Wir lassen uns etwas einfallen. Wir werden schon was finden. Ich kenne da jemanden in der Nachbarschaft, eine Familie, die in die Osterferien gefahren ist. Zumindest können Sie dort erst einmal ein paar Tage bleiben.«
»Keine Polizei«, stieß Heather unter Tränen hervor. »Nicht ins Gefängnis.«
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete Kay und warf Gloria einen fragenden Blick zu. Aber Gloria grinste nur selbstgefällig und triumphierend.
»Jetzt«, sagte die Anwältin und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe, was einem Schmatzer sehr nahekam, »jetzt sitzen wir am längeren Hebel.«
Kapitel 15
Eine Nacht. Noch eine Nacht. Alle hatten gesagt, dass sie keinen Tag länger im Krankenhaus bleiben könne, aber sie hatte ihnen noch eine Nacht abgetrotzt, was nur bewies, was sie sowieso schon wusste, dass alle ständig logen. One more night . Vor Jahren hatte es einmal einen grässlichen Song mit diesem Titel gegeben, ein verschmähter Liebhaber, der um eine letzte Liebesnacht bat. In so vielen Liedern ging es darum. Touch me in the morning. I can’t make you love me if you don’t . Sie hatte das noch nie verstanden. Als sie noch jünger war und das eine oder andere Date hatte – und es, welch Überraschung!, immer
wieder schiefging -, ließen sie die Männer spätestens nach ein paar Monaten sitzen, fast so, als könnten sie die Verderbtheit riechen, die von ihr ausging, als ob sie ihr geheimes Verfallsdatum herausgefunden und erkannt hätten, wie verrottet sie innerlich war. Doch ganz gleich, was dazu geführt hatte: Wenn ein Mann mit ihr Schluss machte, war eine letzte Nacht das Letzte, was sie von ihm gewollt hätte. Manchmal warf sie mit Dingen um sich, und manchmal weinte sie.
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