Was die Toten wissen
Kindes.
Gloria antwortete. »Der Fall Bethany ist einer, der eine Menge Staub aufwirbeln wird.«
»Aber ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass ich nicht dieses Mädchen sein will.«
Ausgerechnet jetzt fiel Kay diese alte Fernsehserie aus den Sechzigern ein, Marlo Thomas, ein junges Mädchen aus der Kleinstadt, das mit riesigen Augen und glänzendem Pony durch die große Stadt zieht. An den Namen erinnerte sie sich noch gut.
»Sie wollen nicht die sein, die Sie sind?«, fragte Gloria.
»Ich will nicht, dass mich alle plötzlich für einen Freak halten – das Mädchen aus den Schlagzeilen, die entführte Braut, die Joggerin vom Central Park, wer auch immer. Es hat mich bereits genug gekostet, ein halbwegs normales, neues Leben aufzubauen. Man hat mich entführt, als ich noch ein Kind war. Ich habe Dinge gesehen … Ich konnte das College nicht abschließen, ich habe eine Menge Jobs angefangen, bis ich endlich einen gefunden hatte, der zu mir passte und der es mir ermöglichte, die Art von Leben zu führen, die für andere selbstverständlich ist.«
»Heather, das klingt jetzt vielleicht etwas brutal, aber daraus würden sich für Sie bestimmt gewisse finanzielle Vorteile ergeben. Ihre Geschichte ist ein Vermögen wert.« Gloria lächelte bitter. »Das vermute ich wenigstens. Immer vorausgesetzt, dass Sie wirklich diejenige sind, für die Sie sich ausgeben.«
»Die bin ich. Fragen Sie mich über meine Familie, was Sie wollen. Dave Bethany, der Sohn von Felicia Bethany, die von ihrem Ehemann schon früh verlassen wurde. Sie arbeitete als Bedienung in dem alten Pimlico-Restaurant, und sie wollte lieber ›Bop-Bop‹ von uns genannt werden als irgendetwas Großmütterliches. Sie zog später nach Florida, in die Nähe von Orlando. Wir haben sie dort jedes Jahr besucht, aber wir waren nie in Disney World, weil mein Vater nichts davon hielt. Mein Vater wurde 1934 geboren und ist, soviel ich weiß, 1989 gestorben. Zumindest wurde zu diesem Zeitpunkt sein Telefon abgemeldet.« Sie fuhr rasch fort, als ob sie Angst hätte, dass ihr jemand dazwischenreden oder Fragen stellen könnte. »Natürlich habe ich das immer ganz genau verfolgt. Miriam, meine Mutter, muss wohl auch tot sein, weil es keine Spur mehr von ihr gibt. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass sie Kanadierin war. Auf alle Fälle gibt es keine Unterlagen von ihr, ich habe jedenfalls keine gefunden, deshalb gehe ich davon aus, dass sie tot ist.«
»Ihre Mutter war aus Kanada?«, wiederholte Kay ungläubig, während Gloria bereits sagte: »Aber Ihre Mutter lebt, Heather. Wenigstens glaubt das der Detective. Vor fünf Jahren wohnte sie noch in Mexiko, und sie versuchen, sie gerade ausfindig zu machen.«
»Meine Mutter … lebt?« Das jähe Aufeinandertreffen unterschiedlichster Gefühle war eigenartig schön, wie wenn bei einem Gewitterregen plötzlich die Sonne durchbricht. Kay hatte noch nie zuvor einen derartigen Wettstreit von Freud und Leid beobachtet. Die Freude konnte sie gut nachvollziehen. Hier war Heather Bethany, die sich für eine Waise hielt, mit nichts
als einem Namen und einer Geschichte in den Spalten der Klatschblätter. Doch jetzt stellte sich heraus, dass ihre Mutter lebte. Dass sie nicht alleine war.
Doch da war auch Zorn, die Skepsis eines Menschen, der niemandem traute.
»Sind Sie sicher?«, wollte Heather wissen. »Sie sagen, vor fünf Jahren war sie in Mexiko, aber sind Sie auch sicher, dass sie jetzt noch lebt?«
»Der ehemalige Ermittler scheint das zu glauben. Ausfindig gemacht hat man sie allerdings noch nicht.«
»Und wenn sie sie finden …«
»… bringen sie sie wahrscheinlich hierher.« Gloria bemühte sich, Heathers Blick einzufangen und ihr fest in die Augen zu sehen. Es war der Blick einer Schlangenbeschwörerin, soweit man sich eine leicht derangierte Schlangenbeschwörerin in einem zerknitterten Wollkostüm vorstellen konnte. »Wenn sie hier eintrifft, Heather, wird die Polizei DNA-Tests machen wollen. Verstehen Sie, worauf das Ganze hinausläuft?«
»Ich lüge nicht.« Ihre Stimme klang teilnahmslos und ermattet, als wollte sie zum Ausdruck bringen, dass ihr Lügen viel zu anstrengend war. »Wann wird sie hier sein?«
»Das hängt davon ab, wann sie sie finden und was sie ihr dann erzählen.« Gloria wandte sich an Kay. »Kann Heather denn hierbehalten werden, bis ihre Mutter eintrifft? Ich bin mir sicher, sie wird sie gern bei sich aufnehmen.«
»Das ist unmöglich, Gloria. Sie wird noch heute entlassen.
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