Was die Toten wissen
Manchmal lachte sie vor Erleichterung. Aber sie hätte niemals um eine letzte Nacht gebeten, eine Berührung am Morgen, ein letzter Fick aus Mitleid, egal, wie man es drehte und wendete. Irgendwo musste man ja seinen Stolz haben.
Sie hievte sich unter Schmerzen aus dem Bett, mit dem Verdacht, dass sie den linken Arm erst einmal vergessen könnte und dass der rechte Arm das ausgleichen musste. Faszinierend, wie schnell der Körper sich umstellte, viel schneller als der Kopf. Auf ihren Verstand war nicht allzu viel Verlass dieser Tage. Habe ich einen Jungen gesehen und gedacht, es wäre ein Mädchen, oder ist da gar kein Gesicht hinter der Autoscheibe gewesen? Sie ging zum Fenster, zog den Vorhang zurück und sah nach draußen – auf den Parkplatz, die verstopften Fahrbahnen der I-95 zur Hauptverkehrszeit, die City-Skyline in der Ferne. Zum Fenster, komm! Sanft ist die Luft der Nacht! Eine Zeile aus einem Gedicht, die sich ihr eingeprägt hatte, ein Vermächtnis der Nonnen, die glaubten, dass man durch Auswendiglernen zu höherer Intelligenz gelangen könne. Die Autobahn war ganz nah, noch nicht mal eine Meile entfernt. Konnte sie es bis dorthin schaffen, den Daumen raushalten und nach Hause trampen? Nein, dann wäre sie in zweifacher Hinsicht auf der Flucht. Sie musste da irgendwie durch. Aber wie?
Es waren nicht die Lügen, die ihr Sorgen bereiteten. Die hatte sie im Griff. Es waren die kleinen Wahrheiten, die ihr gefährlich werden konnten. Ein guter Lügner kommt durch, indem er so wenig Wahres wie möglich erzählt, weil es meist die
Wahrheit ist, die ihm einen Strick dreht. Damals, als sie noch ständig den Namen wechselte, hatte sie gelernt, sich jedes Mal eine komplett neue Identität zuzulegen, nichts von der alten beizubehalten. Aber die Androhung, ins Gefängnis zu kommen, hatte sie durchdrehen lassen. Sie hatte ihnen etwas erzählen müssen. Sie fand es ziemlich clever, ihnen von dem Cop zu erzählen, Karl Malden mit ins Spiel zu bringen. Merkwürdige, nebensächliche Details wie dieses ließen alles andere authentisch wirken. Aber sie würden sich nicht mit Karl Malden zufriedengeben. Sie würden nach einem Namen verlangen, und sie würde ihnen etwas an die Hand geben müssen, jemanden.
»Tut mir leid«, flüsterte sie dem Nachthimmel zu.
Sie war sich nicht sicher, wer ihr mehr Sorgen bereitete, die Toten oder die Lebenden, wer das größte Risiko darstellte. Aber die Lebenden konnte man wenigstens austricksen, nicht so die Toten.
Teil IV
PRAJAPATAYE SVAHA. PRAJAPATAYE IDAM NA MAMA. (1976)
Agnihotra-Mantras sollen in ihrer ursprünglichen Form aus dem Sanskrit zitiert werden. Sie sollen in keine andere Sprache übersetzt werden …
Agnihotra-Mantras sollen auf rhythmisch ausgewogene Weise gesungen werden, sodass die Laute das gesamte Haus erfüllen. Der Klang sollte weder zu laut noch zu schwach sein, noch sollte Eile darin liegen … Das Aufsagen der Mantras schafft ein Gefühl vollkommener Hingabe.
Aus den Anweisungen zum Aufsagen des Agnihotras, des Sonnenaufgangs-/Sonnenuntergangsrituals; zentraler Bestandteil des Fünffachen Pfades
Kapitel 16
Die Sonne wollte gerade untergehen. Dave nahm den Ghee aus dem Kühlschrank und eilte in sein Arbeitszimmer, Chet und Miriam blieben mit ihren Teetassen am Küchentisch sitzen. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, sich zu unterhalten, tranken von ihrem Kräutertee und starrten ins Leere. Alle waren erschöpft und heiser, nach den vielen Interviews an diesem Tag, obwohl Dave das meiste davon bestritten hatte. Miriam hatte es Dave überlassen, und der Kriminalbeamte hatte fast gar nichts gesagt. Dave empfand Willoughbys wortkarge, ruhige Art als wohltuend. Manchmal hatte er aber auch den Verdacht, dass dieses stille Wasser nicht besonders tief gründete. Chet war ihnen inzwischen vertraut, wie ein würdiger Streuner, den sie aufgenommen hatten, nachdem sie jahrelang propagiert hatten, sie wollten keinen Hund haben, weil er zu viel Arbeit machte.
Außer dem Kupfertopf für die Opfergabe erforderte das Agnihotra keine weiteren rituellen Requisiten, was einen großen Teil seines Reizes ausmachte, und so saß Dave im Schneidersitz auf dem Teppich in seinem Arbeitszimmer, kein echter Gebetsteppich, sondern ein Dhurrie, den er vor Jahren auf dem Markt in Indien gekauft hatte, bei einer seiner Reisen nach dem College. Damals hatte seine Mutter noch in Baltimore gewohnt, und er hatte seine Schätze per Schiff an ihre Adresse geschickt, trotz ihres
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