Was gewesen wäre
letzter Halt in Berlin West« hörte ich, und dann wurde der Satz noch einmal wiederholt, sodass ein Verhören unmöglich war. »Moritzplatz, letzter Halt in Berlin West.« Niemand rührte sich, niemanden schien das irgendwie zu stören. Ich starrte Jana an und schrie fast: »Was? Ich meine, was soll das? Fahren wir jetzt in den Osten oder was?« Jana grinste, legte den Arm um meine Schulter und sagte: »Nun man ganz ruhig, meine Süße. Alles gut. Wirst schon sehen.« Das T-Shirt unter meiner Achsel wurde klatschnass, und meine Beine zitterten leicht. Die U-Bahn verlangsamte ihre Fahrt plötzlich und fuhr im Schritttempo in einen Bahnhof ein. Er war dunkler als die anderen Bahnhöfe. Ein Licht wie im Nachttierhaus im Rostocker Zoo. Kacheln waren aus der Wand gerissen, überall lag Dreck und Staub. Der Bahnhof war unbenutzt seit Jahren, ohne Frage. Und dann waren wir durch. Die Jungs neben mir lachten wiehernd: »Doch, da hinter dem Pfeiler, da stand ener. Ick hab den jesehen.« – »Vergiss et, Alter, du hast überhaupt nüscht jesehen.« Aber da fuhr die Bahn schon weiter. Die Türkin guckte starr geradeaus, und die Jungs drückten ihre Nasen an die Scheiben. Wieder wurde der Zug langsamer. »Jannowitzbrücke« war dort zu lesen, und ich sah tatsächlich einen Soldaten, mit geschulterter Waffe stand er hinter einem kleinen Häuschen, einem Kiosk vielleicht. »Fahrkarten um die Ecke« stand auf dem Häuschen in einer geschwungenen altmodischen Schrift. Daneben hing ein Bild von Wilhelm Pieck, dem ersten Präsidenten der DDR, nach dem die Rostocker Uni benannt war. Mir kamen die Tränen, und auch wenn ich mich ihrer schämte, sagte ich zu Jana: »Was soll das? Was machst du mit mir?« Ich flüsterte das, so als ob man mich hören könnte, als ob der DDR-Soldat, der da in seiner blauen Uniform stand, das hören könnte. Jana stand ganz lässig an eine Haltestange gelehnt und schaute in das diffuse Licht des Bahnhofs, den wir gerade verließen. »Geisterbahnhöfe nennen die Westberliner das. Aber die richtige Geisterbahn ist ja oben, über der Erde, da wird es viel gruseliger.« Der Zug verlangsamte schon wieder seine Fahrt, und das gleiche schummerige Licht empfing uns, und als ich auf den blaugrünlichen Kacheln »Alexanderplatz« las, gab es für mich kein Halten mehr. Ich setzte mich auf den Boden, direkt neben die Tür, sodass ich nicht mehr rausgucken konnte, und legte meinen Kopf auf die Knie. Dass jetzt über mir der Alexanderplatz war, der Fernsehturm und die Weltzeituhr, die Grillbar, in der ich mit meiner Mutter vor ein paar Tagen gegessen hatte, das war zu viel für mich. Ich weiß nicht, wie oft ich auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz gewesen bin, ohne zu wissen, dass da irgendwo ein Zug mit Westberlinern heimlich still und leise durchfährt. Gut bewacht und schlecht beleuchtet. Jana beugte sich zu mir runter und sagte: »Hast es gleich geschafft.« Ich wollte, dass sie sich zu mir setzt, dass sie mich in den Arm nimmt, aber sie blieb ungerührt stehen. Der Zug verlangsamte noch zweimal seine Fahrt, und erst in den dritten Bahnhof fuhr er wieder mit normaler Geschwindigkeit ein. Helles Neonlicht empfing uns. »Willkommen in Westberlin«, sagte Jana. »Komm, lass mal aussteigen.«
Ich rannte aus dem U-Bahn-Schacht, und Jana hatte Mühe, mir zu folgen. Sie lief dann schweigend neben mir, und wir gingen direkt auf die Mauer zu, hinter der groß und nah der Fernsehturm stand, der plötzlich aussah wie eine aufgespießte Olive. Ich blieb stehen und starrte Jana wütend an: »Was sollte das? Bist du noch ganz dicht oder was? Was wäre gewesen, wenn die U-Bahn angehalten hätte und die uns da alle rausgeholt hätten? Ich darf gar nicht hier sein. Nach Darmstadt haben die mich gelassen, nicht zu dir. Wenn das rauskommt, darf ich nie wiederkommen.«
Jana hakte mich unter. »Nun beruhig dich mal wieder. Das ist hier der völlig normale Weg. Die dürfen gar nicht anhalten. Die U6 fährt auch unter Ostberlin durch. Und die S-Bahn fährt sogar unter dem Potsdamer Platz durch und Unter den Linden. In Friedrichstraße dürfen wir Westberliner sogar aussteigen und Zigaretten oder Schnaps kaufen. Hol ich mir immer ’ne Schachtel Club aus alter Gewohnheit.«
»Ich fahr jedenfalls nicht so zurück, das sag ich dir. Kommen wir denn irgendwie anders zu dir? Ich hatte so einen Schiss.« Mir schlotterten immer noch die Knie.
»Klar, wir können bis Osloer Straße fahren und dann über den Zoo nach Hause. Dauert nur
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