Was gewesen wäre
alleine, haben gebadet im See und Wein getrunken. Er hat mich geküsst, und wir haben miteinander geschlafen und geredet die halbe Nacht. Er hat mir auf der Gitarre vorgespielt, saß nackt in einem alten Sessel, und die Töne zogen durch den Raum und durch mich durch hinaus aus dem Fenster und klangen in der Dunkelheit des Waldes nach. Das letzte Mal, vor vier Wochen, sahen wir uns in Berlin. Das war weniger erfreulich. Er hatte mich zur Einweihung seiner Wohnung in der Dimitroffstraße eingeladen. So wie Tobias in Rostock hatte auch er eine leerstehende Wohnung im Vorderhaus aufgebrochen, renoviert und war dann eingezogen. Das war eigentlich die einzige Möglichkeit, wie man in unserem Alter an eine Wohnung kam. Der Staat hatte längst den Überblick verloren, welche Wohnungen leerstanden und welche in eine Schwarzwohnung umgewandelt worden waren. Sozialistische Umlagerung.
Ich hatte keine Lust auf diese Einweihung, am besten noch mit Karin an seiner und Tobias an meiner Seite. Aber als ich ein paar Tage später sowieso in Berlin war zum Einkaufen, da ging ich bei ihm vorbei. Er war da und küsste mich noch im Treppenhaus, und ich wusste: Sie ist nicht da. Wir schliefen sofort miteinander. Aber ich floh ein paar Stunden später wieder, weil ich Angst hatte, jeden Moment würde Karin in der Tür stehen, und Julius schien das nicht weiter zu stören. Ich zog meine schwarzen Stiefel an, die Julius mir kurz vorher ausgezogen hatte, und da sagte er: »Ich hätte gern so Cowboystiefel, wie die, die im Westen jetzt alle anhaben. Weißt du, so spitze Dinger mit Hacken und Schlangenmuster.«
»Wenn das deine einzige Sorge ist«, dachte ich und verschwand. Ich hatte ihm da sogar erzählt, dass ich in den Westen fahren und Jana besuchen würde statt zu meiner dementen Tante Inge nach Darmstadt zu reisen. Julius hatte sich für mich gefreut, aber von einer Flucht war keine Rede.
Ich hätte ihn gerne angerufen, ich hätte gern mit ihm geredet, aber das ging nicht, nicht nur weil er kein Telefon hatte. Selbst wenn er eines gehabt hätte, dann wäre es vielleicht abgehört worden, und was hätte ich ihm sagen sollen. Tu es nicht! Komm nicht, Julius! Ich will gar nicht, dass du kommst. Dein Vater nutzt nur die Situation aus! Und wollte ich denn wirklich, dass er nicht kommt? Gefiel mir nicht der Gedanke, dass er diese bescheuerte Karin, dieses Wesen aus Milch und Blut mit ihren langen Beinen und dem tollen Busen, einfach in Ostberlin sitzen ließ und sich Tausende Kilometer auf den Weg machte, durch den Eisernen Vorhang brach, nur um zu mir zu kommen, die ich eigentlich nur in einem anderen Stadtviertel von Berlin saß? Mir gefiel der Gedanke, ob ich wollte oder nicht.
Sascha reichte mir noch ein Stück Zitrone. Neben ihm auf dem Tresen standen schon wieder zwei klare Tequilla, und während ich die Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger einrieb und Salz darauf streute, sagte er: »Ich fahre morgen wieder rüber in die Dimitroffstraße und rede mit ihm. Dann ist er weichgekocht. Assi, du hättest den heute sehen sollen, wie der geguckt hat.«
»Wie hat er denn geguckt?«
»Der bereut das mit Karin doch ewig schon. Wenn der da rausmarschiert aus dem Scheißosten, dann ist er die los, und hier wartest du. Das ist doch alles bestens.«
»Sehr charmant für mich. Sonst hat er es ja auch nicht geschafft, sich von Karin zu trennen. Was heißt geschafft, der wollte ja gar nicht. Das stand nie zur Debatte, und jetzt aber, wo er sein Leben riskieren muss, da kommt er dann, und Karin wird von der Mauer zurückgehalten oder was?« Ich biss versehentlich zuerst in die Zitrone, kippte den Schnaps und sah dann unschlüssig auf das Salz auf meinem Handrücken. Sascha stellte sein Glas auf den Tresen, verzog sein Gesicht und sagte: »Abwarten und Tequilla trinken.«
Sascha meldete sich nicht am nächsten Tag, und ich nahm das für ein gutes Zeichen. Jana musste arbeiten. Sie fuhr mit einem kleinen Fiat durch Westberlin und wischte, wie sie selber sagte, alten Omas den Hintern ab. »Häusliche Krankenpflege. Das ist ganz okay. Kriegst du ’nen Zehner pro Oma, macht mal zwölf pro Abend hundertzwanzig Eier. Manchen brauchst du nur ’ne Stulle zu schmieren. Mach ich natürlich schwarz, und zusammen mit der Stütze komm ich so ganz gut rum.«
Sie verschwand am Nachmittag, und ich ging zum türkischen Gemüsehändler um die Ecke. Das Mädchen an der Kasse trug ein Kopftuch wie die syrischen und palästinensischen Studentinnen in meinem
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