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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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wahrsten Sinne des Wortes.«
    »Was ist denn, wenn sie ihn erschießen?«
    »Mensch, Assi, die Ungarn schießen nicht mehr. Hast du doch gehört. Er weiß Bescheid.«
    Ich stellte mir vor, wie Sascha rüber nach Ostberlin fuhr. Mit ein paar Cowboystiefeln in der Hand, das hatte ich ihm noch verraten, dass sein Bruder sich die wünschen würde. »Ordentlich spitz und mit Hacken.« Wie er in seiner Wohnung in der Dimitroffstraße klingeln würde, dann die Schuhe auf den Tisch wirft und Julius diesen aberwitzigen Vorschlag macht: »Du fliegst, so schnell es geht, nach Budapest. Ich leih mir ein Wohnmobil. Damit komm ich rüber. Wir verstecken dich darin und fahren auf die Grenze zu. Da wird kaum noch kontrolliert im Grenzgebiet. Ich setz dich kurz vor dem Kontrollpunkt raus, und du läufst rüber nach Jugoslawien. Alles schon ausgekundschaftet, und auf der anderen Seite nehme ich dich wieder auf. Wir holen Vater ab, fahren zurück, und du bist raus. Astrid wartet auf dich in Westberlin.«
    Ich sah Jana an, die sich noch eine Tasse Kaffee eingoss. »Der kriegt wahrscheinlich nicht mal mehr einen Flug nach Budapest, und selbst mit dem Zug – eine absolute Schnapsidee. Und total gefährlich. Wer garantiert dir denn, dass da nicht mehr geschossen wird? Das habe ich noch nie gehört.«
    »Du glaubst aber immerhin, dass er kommt«, sagte Jana und grinste.
    »Mal angenommen, nur mal angenommen, er würde tatsächlich diese Karin verlassen und hier rüberkommen. Dann ist da immer noch seine Mutter, und die würde eingehen wie ’ne Primel ohne ihn. Wenn der die Biege macht, und dann noch in den Westen zu ihrem verhassten Ex, dann wird die nicht mehr. Das kann Julius schon aus dem Grund nicht machen.«
    »Wir werden sehen«, sagte Jana.
    Wir gingen frühstücken in einem Café am Landwehrkanal. Tranken Milchkaffee, aßen Croissants und lasen die Zeitungen. Vor uns auf dem Wasser quakten die Enten, und wir saßen in einem wunderschönen kleinen Garten. Der Sommer war immer noch durchwachsen, wie meine Mutter das nennen würde, und ich musste lachen, weil sich durchwachsen immer eher nach Speck anhörte als nach Wetter. Immerhin regnete es nicht. Das Titelbild des »Spiegel« war knallrot.
Revolution in Moskau
. Eine komplizierte Geschichte stand darin, wie Gorbatschow versuchte, die Sowjetunion zu reformieren. Bei unseren Nussknackern in Ostberlin, bei Honecker, Krenz und Stoph, war davon nichts angekommen. Tobias trug Gorbatschows Gesicht auf einem Sticker an seiner Jeansjacke neben der roten rausgestreckten Zunge von den Stones. Den Generalsekretär der KPdSU neben der größten Rockband aller Zeiten. Jana zeigte verächtlich auf die Zeitschrift und sagte: »Ich gebe dem noch vier Wochen, dem Gorbatschow, und dann machen die den einen Kopf kürzer oder schieben ihn ab wie diesen Jelzin. Hoffnungsträger! Dass ich nicht lache. Du glaubst doch nicht, dass man die Russerei reformieren kann?!«
    Am Abend trafen wir Sascha im »Franken« in der Oranienstraße. Ein enger, schmaler Laden, der nur aus einem Tresen bestand. Die Barfrau sah aus wie Gianna Nannini, nur zehn Jahre jünger, und wenn man etwas bei ihr bestellte, dann starrte sie einen für Sekunden an, als würden die Worte dabei in ihr Hirn gebrannt. Ich trank Soave und einen Tequilla mit Jana. Wir bissen in die Orangenscheibe, und Sascha bestand darauf, dass ich auch noch einen weißen Tequilla trank, denn der braune sei etwas für Mädchen. Also leckten wir das Salz, kippten den klaren Schnaps und bissen in die Zitronenscheiben, bis es uns schüttelte. Und ich versuchte mir vorzustellen, wie ich all das Tobias in Rostock beschreiben könnte. Die Dönerläden, das Café am Landwehrkanal, ob man lieber Milchkaffee trinkt oder einen kleineren Cappuccino. Später, in ein paar Tagen an unserem Küchentisch mit Blick auf das alte leere Hafenbecken in der Warnow. Tobias hatte noch nie einen Milchkaffee getrunken, er wusste gar nicht, dass es Milchkaffee gab, geschweige denn Tequilla.
    »Julius will einen Tag Bedenkzeit«, sagte Sascha, und ich lachte laut.
    »Pah eh, der kommt nicht, dein Brüderchen. Dein Vater hat gesagt, ihr hättet ihm das so oft vorgeschlagen, und er ist nie darauf eingegangen, und nur jetzt, weil ich hier bin, da soll er kommen? Da lachen doch die Hühner.«
    Julius und ich hatten uns zwei Mal gesehen nach dieser Nacht in Budapest. Einmal habe ich ihn zufällig in Neubrandenburg in der Kaufhalle getroffen und bin mit ihm ins Forsthaus gefahren. Wir waren

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