Was gewesen wäre
Studienjahr, aber noch mehr interessierte ich mich für das Obst. Ich ließ mir für fünf Mark eine Tüte vollpacken mit Pfirsichen, Kiwis, Bananen und Papaya und aß das alles allein in Janas Küche auf.
Ich ging zu Woolworth auf der Karl-Marx-Straße, zum Karstadt am Hermannplatz und fuhr ins KDW. Hier war der Westen ein bisschen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, bunt und glitzernd und nicht grau und runtergekommen wie Neukölln. Am liebsten hätte ich Tobias in die Feinkostabteilung des KDW gebeamt. Raus aus unserer Küche, wo er oft am Tisch saß und lernte. Direkt vor zweiundvierzig verschiedenen Sorten Salami. Wie er dann wohl gucken würde. Vermutlich würde er fragen: »Wer braucht zweiundvierzig Sorten Salami?«
Ich guckte nur im KDW und fuhr dann wieder zurück nach Neukölln. Hier kaufte ich einen Rekorder mit Doppelkassettendeck für Tobias, so eine Drückkaffeekanne, eine schwarze Jeans für ihn und eine stonewashed für mich. Jana hatte mir von irgendeinem Studenten ein gebrauchtes Pschyrembel Klinisches Wörterbuch besorgt und einen fast neuen Waldeyer, die Anatomiebibel, nach der auch in Rostock unterrichtet wurde. Offiziell bekam man das natürlich nicht zu kaufen. Außerdem holte ich noch eine Flasche weißen Tequilla mit einem roten Plastesombrero auf dem Deckel. Den würde ich mit Tobias und ein paar Freunden in Rostock trinken und vom Westen erzählen. Der braune schmeckte mir zwar besser, aber Zitronen gab es im Osten immer. Für Apfelsinen hätten wir bis Weihnachten warten müssen.
»Heul nicht«, sagte Jana am folgenden Montag zu mir auf der Karl-Marx-Straße. An meinem letzten Montag im Westen. Vermutlich. Dabei heulte ich gar nicht. Mir war gar nicht danach zumute. Mir war nach gar nichts, und das war viel schlimmer. Jana hatte das ganze Wochenende gearbeitet, und am Sonntag gingen wir danach ins Kino und sahen Cher, die eine Italienerin in New York spielte, die in den Bruder ihres langweiligen Verlobten verliebt war. Der Mond hing über den Wolkenkratzern von Manhattan wie eine reife Frucht, und Jana machte den jungen, aufregenderen Bruder nach, der vor seiner Haustür zu Cher sagte: »Mir ist jetzt alles völlig gleichgültig, weil ich mit dir ins Bett will.« Sie imitierte seine raue Stimme, bis wir Tränen lachten, und dann tranken wir noch ein Bier im türkischen Imbiss an unserer Ecke und redeten weiter über den Film. Mit Tobias konnte ich das nie, jedenfalls nicht, wenn wir in Rostock aus dem Kino kamen. »Ganz gut«, war seine Standardantwort oder »schön«, und mehr sagte er dann nicht, weil er, wie er sagte, in der Stimmung des Filmes bleiben wollte. Dabei platzte ich fast, und mit Jana konnte ich ins Detail gehen und dabei noch Oliven essen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war verrückt nach diesem Geschmack, salzig und sauer. Spät gingen wir nach Hause. Der Anrufbeantworter blinkte, Jana drückte auf das Knöpfchen, und Saschas Stimme hallte blechern durch den langen Flur. »Morgen steigt der Adler in die Lüfte. Es geht los. Haltet euch bereit.« Wir riefen ihn sofort zurück, ohne ihn zu erreichen, und auch seinen Vater, den wir gleich am Montagmorgen in seiner Hamburger Firma anriefen, bekamen wir nicht ans Telefon. Er sei für ein paar Tage in den Urlaub gefahren, sagte die Sekretärin, und ob sie aushelfen könne?
Wir liefen zum Hermannplatz, und zum ersten Mal seit ich hier war, hatte ich keine Freude an dem Durcheinander auf der Straße. An den vielen fremden Gesichtern, den Nippesläden und dem ständigen Angequatschtwerden: »Eh, haste mal ’ne Mark?« Ich hatte noch genau 71,95 Mark und wollte am liebsten nichts mehr davon hergeben. Schweigend gingen wir die Treppen zur U-Bahn hinunter durch dieses Labyrinth aus Gängen und Rolltreppen. Wir stiegen in die U8. »Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte ich, und Jana sagte: »Wirst du schon sehen. Wird eine Überraschung.« Die U-Bahn war nicht besonders voll. Neben uns standen zwei Halbstarke mit umgedrehten Schirmmützen und pickliger Haut, und auf der nächsten Bank saß ein türkisches Mädchen, das zwei Kopftücher übereinander trug. Ein pinkfarbenes drunter und ein weißes drüber. Sie sah unglaublich schön aus mit ihren dunklen ganz geraden Augenbrauen, einem schmalen Gesicht mit ganz kleinem Kinn. Das hohe, turbanartige Kopftuch machte ihre Gestalt noch länger und schlanker. Sie hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt und guckte die ganze Zeit aus dem gegenüberliegenden Fenster.
»Moritzplatz,
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