Was gewesen wäre
länger.«
»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte ich. Inzwischen standen wir fast vor der Mauer, die auf dieser Seite bunt bemalt und besprayt war. »DDRKZ« stand da neben SS-Runen. Vieles konnte man gar nicht entziffern, und über »Iß rotes Apfelmus« musste ich sogar lachen. Die Häuser sahen schrecklich aus. Viergeschossige Neubauten in Schuhschachtelbauweise, als wären sie von der DDR geliefert worden. Nur besser verputzt. Und sie waren so gebaut, dass die Bewohner nicht auf oder über die Mauer gucken mussten. »Das ist der Wedding hier«, sagte Jana. Als wir an der Mauer angekommen waren, bogen wir links in die Bernauer Straße und gingen sie ein Stück entlang. Eine breite Kopfsteinpflasterstraße, auf der kein Auto fuhr. Ein Stückchen weiter machte die Mauer einen Bogen, und dort stand ein Aussichtsturm, aus Metallrohren und Latten gebaut. Ich kannte diese Glotztürme aus dem Westfernsehen und hatte mich immer schon gefragt, was das für ein Gefühl war, da drauf zu stehen und nach Ostberlin zu gucken wie in ein Tiergehege.
»Müssen wir da hoch?«, fragte ich, und Jana nickte. Es war windstill und warm dort oben. Die Sonne schien durch die vorbeiziehenden Wolken. Mir steckte immer noch die U-Bahn-Fahrt in den Knochen, und ich fühlte mich hier auf eine perverse Art sicher. Hinter der Mauer lagen ineinandergekeilte Metallträger, die aussahen wie umgestürzte Kreuze. Sie standen in einer Doppelreihe, jeweils versetzt zur Lücke der Reihe davor. Da kam schon mal keiner durch. Es schloss sich ein breiter Streifen frisch geharkter Sand an, damit man jede Fußspur sehen kann, die dort hinterlassen werden könnte. Dann folgte eine zweite Mauer, die den Bogen der ersten nach links mitverfolgte. Die war wieder blütenweiß, so wie ich das aus Ostberlin gewohnt war. Dahinter war ein Eckhaus zu sehen, ein runtergekommenes DDR-Mietshaus mit einem »Klub der Volkssolidarität« im Erdgeschoss.
In einiger Entfernung gingen drei junge Männer und ein Mädchen in einem hellen Kleid in die entgegengesetzte Richtung, sodass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Das Mädchen hatte die Hüfte des außen Gehenden umfasst. Ansonsten war der Abschnitt, den wir sehen konnten, menschenleer. Ich glaube, am meisten erschütterte mich, dass die Stadt einfach so weiterging. Das wusste ich natürlich, aber es zu sehen war etwas anderes. Da drüben gab es keine Werbetafeln, und die Fassaden der Häuser waren abgeschlagen und alt. Aber hinter den Fenstern sah man Gardinen, und auch wenn ich lieber nicht wissen wollte, wer da so dicht an der Mauer leben durfte, lebte da doch wer. Auf einem Parkplatz standen Wartburgs, Trabants und Ladas. Jana zeigte mit dem Arm nach links: »Da, die Flutlichtmasten, das ist das Stadion vom BFC, dem geliebten Dauerfußballmeister der Stasi. Rechts kommt die Oderberger Straße, und hier, wenn du gerade guckst, das ist die Eberswalder. Und wenn du da weiterläufst, kommt dann die Schönhauser Allee mit der U-Bahn oben auf dem Viadukt wie in Kreuzberg. Da gehst du durch, und dann stehst du wo?« Sie sah mich gespannt an, und eine große Zufriedenheit lag in ihrer Stimme. Ich sah auf diesen geharkten Todesstreifen vor mir, auf dem jeder erschossen werden würde, der in unsere Richtung lief, der jetzt aber still und fast friedlich dalag. Es war kein Grenzer zu sehen. Dann sah ich in Richtung Eberswalder Straße. Mein Hirn war wie ausgeschaltet, als würde nicht mehr genug Blut nach oben gepumpt, als könnte ich nicht mehr richtig nachdenken.
»Dann kommt die Dimitroffstraße«, hörte ich Jana sagen. »Das sind vielleicht fünfhundert Meter. Da packt Julius Herne gerade seine sieben Sachen, um hierher zu dir zu kommen. Also, er wird natürlich einen kleinen Umweg über Budapest nehmen müssen.« Ich sah mich erschrocken um, so als könnte uns beide hier auf diesem Aussichtsturm irgendwer hören. Aber auch auf unserer Seite war keine Menschenseele zu sehen. »So, und jetzt überlegst du dir noch mal gut, ob du da wieder hinwillst, Astrid Wolter. In dieses Arbeiter- und Bauernparadies, das den selbigen unterm Arsch weggammelt. Wo dir dau ernd gesagt wird, was du zu tun oder zu lassen hast. Wo du für einen Witz über Erich im Knast landest. Wo du schön zu Ende weiterstudieren kannst und dir dann mit deinem Männe so ein schönes Häuschen baust, wie es deine Alten haben. Und eure Kinder müssen in der Schule lügen, dass sich die Balken biegen, damit sie auch Abitur machen dürfen. Vielleicht
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