Was gewesen wäre
gesehen.
»Sie haben sie auf Julius angesetzt. Also eigentlich auf dich. Die Stasi hat vermutet, dass Julius unglücklich ist mit dieser durchgeknallten Karin. Was ehrlich gesagt stimmte. Die hat ihm den ganzen Tag die Hölle heiß gemacht. Am Ende ist die keinen Schritt ohne ihn gegangen. Erstaunlich eigentlich, dass er seine sieben Sachen packen konnte, um abzuhauen. Vermutlich hat sie da auf dem Klo gesessen. Und das hat ihnen diese Jana alles haarklein erzählt. Sein Verhältnis zu dir, zu mir. Alles. Wenn ich daran nur denke.«
Sie rieb sich ihre Finger, als wenn sie frieren würde. »Und mein Sohn konnte nicht nein sagen. Der war zu gutmütig und wohl auch ein bisschen feige, und da erschien ihm das mit der Flucht und dir wie eine Lösung.«
»Hat er das so gesagt?«, fragte ich.
Katharina faltete die Hände und legte die Daumen ruhig aufeinander. »Ja, das hat er mir gesagt. Dass er dich geliebt hat und deshalb geflohen ist. Wolltest du ihn eigentlich nie wiedersehen?«
»Vielleicht wollte er ja auch von dir weg?«, dachte ich, »du hast ihn doch auch wie ein Pfand benutzt.« Aber ich sagte: »Zu mir konnte er sehr gut nein sagen. Von Anfang an eigentlich ging es immer nur um ein Nein, und das Einzige, was ich bei deinem Sohn erreichen konnte, war ein Vielleicht.«
Sie lächelte, als würde sie sich an ein kleines Kind erinnern, als sähe sie Julius dreijährig und in kurzen Hosen vor sich.
»Was ist mit deinen Haaren?«, fragte ich und stand auf, um ihr Wasserglas erneut zu füllen. Die Frage riss sie aus ihren Gedanken. Sie strich sich über den Kopf, als wollte sie überprüfen, dass da nichts mehr ist. »Leukämie«, sagte sie. »Die haben uns bestrahlt in Hohenschönhausen. Im Stasi-Knast.«
Ich wusste, dass sie wochenlang in Hohenschönhausen gesessen hatte. Katharina wurde damals zwei Stunden lang in einem geschlossenen Barkas durch Berlin gekarrt, damit sie dachte, sie sei sonst wo. Dabei stiegen sie in Hohenschönhausen aus, nur ein paar Kilometer vom Alexanderplatz entfernt. Davon hat sie in einem großen Interview erzählt. Wie sie trotz Ausstellungsverbot weitermalte und ihre Punkkonzerte gab, wie sie an jeder Oppositionsaktion teilnahm, die sie erreichen konnte, und wie die Stasi sie dann mitten in der Nacht aus dem Bett riss und in dieses Gefängnis karrte. Sie steckten sie in einen blauen Trainingsanzug und in gelbe Filzpantoffeln. Katharina in Filzpantoffeln. Es gab keinen Kontakt zu anderen Gefangenen, und man durfte nichts, aber auch nichts machen in der Zelle. Außer sitzen und warten. In vorgeschriebener Haltung. Selbst Liegestütze waren verboten. Und wer nicht in der vorgeschriebenen Haltung schlief, auf dem Rücken und Hände über der Decke, wurde wieder aufgeweckt. Die ganze Nacht durch. »Die wollten mich raus haben aus dem Scheißosten, unbedingt«, hatte Katharina damals in diesem Interview erzählt. »Unbedingt. In jedem dieser stundenlangen Verhöre ging es um nichts anderes. Da lag immer der Pass mit dem unbegrenzten Visum für die Ausreise in die BRD. Aber da wollte ich ja gar nicht hin. Was sollte ich in dieser kranken, konsumgeilen Welt. Bis die dann zu mir gekommen ist. Friedliche Revolution, dass ich nicht lache. Ein Volk steht auf und geht zu Aldi. Das war alles.«
»Ich male seit zwei Jahren nichts mehr«, hatte sie damals im Zeitungsinterview gesagt. »Mir fällt nichts ein. Aber ich verkauf das alte Zeug wenigstens. Brauch ich mir also keine Sorgen um die Brötchen zu machen.«
Ich dachte: »Was, wenn du einfach nur so Leukämie hast? So wie jeder andere Leukämiekranke auch?« Der Gedanke stieg in mir auf wie eine Luftblase im Wasser, und das war mir peinlich. Katharina, als würde sie ahnen, was in mir vorging, sagte: »Es gab da so ein Fotostudio, da haben sie mich manchmal stundenlang drin sitzen lassen. Einfach so. Es wurde nie ein Foto gemacht, und in Gera hatten sie im dortigen Stasi-Knast genau so ein Studio. Und hinter einer Wand versteckt fanden sie dort eine Strahlenkanone. Mein Gott, war das alles krank.« Ich erwartete, dass ihre Stimme zitterte, dass ihr vielleicht die Tränen kamen, aber es war keinerlei Gefühlsregung an ihr auszumachen. Sie stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus in das Sonnenlicht.
»Was machst du eigentlich hier drinnen? Studierst du? Irgendwas? Irgendeinen Unsinn, mit dem du dich dann später einreihst in das akademische Arbeitslosenheer? Oder willst du dich mit einer Freundin treffen zum Frühstücken? Warum
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