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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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frühstücken jetzt alle im Prenzlauer Berg? Kannst du mir das mal verraten?«
    Sie saß jetzt auf dem Fensterbrett, und das helle Sonnenlicht hinter ihr ließ ihr Kleid erstrahlen. Aber ihr Gesicht war so kaum zu sehen. Es lag im Schatten.
    Ich zog meine Knie hoch und legte mein Kinn darauf, umfasste meine Beine und sagte dann: »Ich hab mein Kind verloren vor ein paar Tagen.« Mehr sagte ich nicht. Mein verlorenes Baby, den Zellklumpen, wie das mein Freund nannte. Katharina fragte nicht, wie alt es gewesen ist oder ob es schon Arme und Beine oder einen Namen hatte. Sie kam nicht auf mich zu und nahm mich in den Arm. Das hatte ich auch nicht erwartet. Ich hatte gar nichts erwartet und war erstaunt über mich selbst. Nicht einmal meiner eigenen Mutter hatte ich das erzählt. Weder von der Schwangerschaft noch von dem Abort.
    Katharina stieß sich vom Fensterbrett ab. Ich konnte ihr Gesicht wieder erkennen. Sie lächelte sanft. »Hast du den verpackten Reichstag schon gesehen?«
    »Nee, habe ich nicht«, sagte ich. »Der ist mir scheißegal.« Tobias hatte sich »das Spektakel«, wie er es nannte, am Wochenende angesehen, mit ein paar Freunden, während ich hier in die Kissen weinte. Katharina hockte sich vor mich hin, nahm meine Hand in ihre, und ich sah, dass sich das Sonnenlicht auf ihrer Kopfhaut spiegelte. Sie sagte: »Komm, wir fahren da jetzt hin. Ich nehme dich mit. Ich war jeden Tag da bisher, und zwei Tage haben wir noch.«
    Sie sprach davon, als würde die ganze Stadt dort gemeinsam Weihnachten feiern und nur ich wüsste nichts davon. Ich folgte ihr aus der Wohnung und lief hinter ihr die Treppen hinunter und war froh, dass sie das Kopftuch wieder aufgesetzt hatte. Ich hatte in meiner Ausbildung wirklich schon viele Krebskranke gesehen, aber mir fiel es so leichter, neben Katharina zu laufen, die mit ihrem Kopftuch ihre Verletzlichkeit verdeckte. Ich war selbst verletzlich genug.
    Wir stiegen in ihr Auto, einen roten Saab mit Ledersitzen, und sie brauste durch die Stadt, die Prenzlauer Allee hinunter, am Alex vorbei. Ich hatte die Scheibe hinuntergekurbelt und staunte, wie schnell und elegant sich Katharina durch den Verkehr bewegte. Dabei sah sie ganz klein und zerbrechlich aus mit ihrem hellen Kleid in diesem schwarzen Sitz.
    »Weißt du, als ich da in Hohenschönhausen saß, da habe ich meine ganze Wut auf dich konzentriert. Ich war so sicher, dass du den Julius rausgelockt hast. Du kannst ja nichts machen in dieser idiotischen Zelle. Bist hundemüde und hast nichts zu tun. Also habe ich ein bisschen meine Texte vor mich hin gesungen. Immer wieder, die Melodien variiert. Versucht, mir etwas Neues auszudenken. Und bin hin und her gelaufen, wie ein Tiger im Käfig. Fünf Schritte vor und fünf Schritte zurück. Stundenlang bin ich so gelaufen und hab an dich gedacht und an Julius. Nie an Jana. Die mochte ich damals viel mehr als dich. Die war mir näher. Direkt war die und ohne Scheu. Du warst so verhuscht, eine richtige Ostine. Aber man kann sich seine IMs eben nicht aussuchen. Hast du denn noch Kontakt zu dieser Jana?«, sie sah mich an und lächelte versöhnlich.
    »Nein, habe ich nicht. Wir haben uns damals in Westberlin verstritten. Sie wollte nicht, dass ich wieder in den Osten zurückgehe.«
    »Nee, sicher nicht. Das war ja auch ihr Auftrag.«
    Am liebsten hätte ich ihr irgendwas entgegengeschrien, dass Jana meine Freundin ist, dass das alles nicht wahr ist. Die ganze Scheiße. Ich guckte auf die Rückseite des roten Rathauses, an dem wir vorbeifuhren. Ich hatte versucht, Jana wiederzufinden. Sie fehlte mir so. Drei Wochen nach dem Mauerfall fuhr ich nach Berlin-Neukölln und ging mit klopfendem Herzen auf ihren Hinterhof. Aber sie wohnte dort nicht mehr, und im Telefonbuch stand sie auch nicht. Zumindest nicht in dem von Westberlin. Sie hat sich nie bei mir gemeldet. Auch wenn ich vorhin diese Kopie von Katharinas Stasi-Unterlagen gelesen hatte, kam mir die Vorstellung, dass Jana mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet hatte, völlig absurd vor.
    »Verhuscht«, dachte ich immer noch, als wir über die große Wiese vor dem Reichstag gingen. Hatte sie über mich so mit Julius gesprochen? »Was willst du mit diesem Heimchen?« Das Gras war gelb, plattgetreten und voller Menschen. Weiter hinten spielten sie Frisbee und Fußball. Unendlich viele Menschen standen einfach da und sahen auf das Gebäude, das hell silberglänzend verpackt in der Sonne stand. Verschnürt mit blauen Seilen, die

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