Was gewesen wäre
ihm dann folgen muss. Weil ich ohne ihn nicht leben konnte. Dachten die zumindest. Die wollten mich ja schon seit Jahren raushaben, aber ich habe mich nicht in den Westen abschieben lassen, weil ich wusste, dass dieses Scheißsystem auch keine Lösung ist.« Sie zeigt auf das offene Fenster, vor dem sich die Blätter der Kastanie leise bewegten.
Ich verstand ehrlich gesagt überhaupt nicht, wovon sie redete, und sah sie an. Inzwischen war ich sicher, dass eine Chemotherapie sie die Haare gekostet hatte. Die Konturen ihres Gesichtes, ihre gerade schmale Nase und die etwas zurückfallende Stirn, waren ohne die Haare klarer zu erkennen, und ich gewöhnte mich schnell an diesen Anblick. »Julius’ Vater, dieser Idiot, hatte seit Jahren versucht, ihn in den Westen zu holen. Dem wäre vermutlich auch egal gewesen, wenn der Junge draufgegangen wäre. Aber ich wusste, dass der nicht von sich aus geht. Und deshalb hatte ich dich im Verdacht. Von Anfang an. Weil ich mich gewundert habe, dass der Scheißosten dich da 1988 rausgelassen hat, einfach so mit deinen zwanzig Lenzen. Zum Geburtstag deiner Tante. Und dass du auch noch wieder zurückgekommen bist, als Julius dann drüben war und nicht mehr zurückkommen konnte, als es ihm ganz und gar unmöglich war.«
»Aber ich habe nicht mit der Stasi geredet.« Meine Stimme hörte sich trocken und viel zu hoch an. »Nicht mal, nachdem ich wieder da war. Hier in der DDR meine ich. Ich habe die anfangs immer erwartet, wegen Julius’ Flucht, aber da kam nichts. Niemand.«
Katharina trank in einem Zug das Wasserglas leer. Ein Tropfen lief ihr über das Kinn, und bevor er zu Boden fiel, wischte sie ihn mit dem Handrücken ab und sah mich an. »Das glaube ich dir sofort. Und deshalb tut es mir auch leid, dass ich dich verdächtigt habe die letzten Jahre. Deshalb bin ich hier. Aber ich lag gar nicht so falsch. Vor einem halben Jahr habe ich meine Akten gelesen. Deine Freundin hat den Part des Lockvogels übernommen. Diese Jana Fritsche. Die schon in Westberlin war. Die hat das alles eingerührt mit den Stasi-Idioten. Für ein paar Strumpfhosen und Weinbrandbohnen vermutlich.«
»Was hat Jana eingerührt? Ich verstehe gar nicht, wovon Sie reden.« Das »Sie« war mir rausgerutscht und stand jetzt zwischen uns in der Luft. Ich ging zur Spüle rüber und füllte das Glas noch einmal mit Wasser. Als ich es vor Katharina abstellte, lag ein weißer, zusammengefalteter Zettel auf dem Tisch. Katharina hatte den rechten Ellenbogen auf die Stuhllehne gelegt und guckte mich an, lauernd, wie mir schien. Ich nahm das Papier in die Hand und mochte es nicht auseinanderfalten. Meine Freundin Jana. Wir hatten uns damals in ihrer Wohnung in Neukölln angeschrien. Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, dass ich wieder in die DDR zurückfahren wollte. Am Schluss sprachen wir gar nicht mehr miteinander, und sie verschwand vor mir aus der Wohnung und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Ich war allein zum Bahnhof Zoo gefahren, und als der Zug meiner Mutter einfuhr, war mir, als wäre etwas zu Ende, unwiderruflich und durch meine Schuld. Die Fahrt zur Friedrichstraße mit der S-Bahn war wie eine Prüfung. Tiergarten hätte ich noch aussteigen können, am Lehrter Stadtbahnhof auch. Aber als der Zug losfuhr auf die Mauer zu, da wusste ich, dass es vorbei ist, und auf eine merkwürdige Art und Weise beruhigte mich das sogar. Das Leben dort hinter der Mauer kannte ich, und dass Julius raus war, endgültig verschwunden aus meinem Leben, erschien mir weniger wie ein Schlussstrich als wie eine Amputation. Ein glatter Schnitt, der heilen konnte.
»Die H. wird nach Meinung von IM Marlene nicht bereit sein, die DDR zu verlassen. Ihre Einstellung zum Sozialismus und zum Arbeiter- und Bauernstaat ist durch und durch negativ. Sie lebt isoliert in der Hausgemeinschaft der Schliemannstraße 16, in der sie nur durch ihr asoziales Verhalten und das Abspielen von lauter Musik auffällt. Ein Leben ohne ihren Sohn wäre der H. ganz und gar undenkbar.«
Ich sah von dem Papier auf. Katharina sah mich an, und ihr Gesicht wirkte ohne die Haare noch klarer und gerichteter. »Wer ist Marlene?«, fragte ich.
»Na diese Jana.« Ob sie sich diesen Namen selber ausgesucht hatte? Oder hatte man ihr den gegeben? Und warum hatte sie das gemacht? Damit sie rauskam? Hauptabteilung XX/9 stand oben auf dem Zettel, und ein Kopiestempel war darauf, so als wäre es dann weniger schlimm. Ich hatte noch nie eine Stasi-Akte
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