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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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Monate alt wäre, und dann wollten wir es allen erzählen. Ich konnte es kaum abwarten. Aber in der elften Woche verlor ich das Kind urplötzlich. Meine Gynäkologin sagte: »Das passiert ja sehr häufig. Gerade in den ersten drei Monaten, aber das wissen Sie ja, Frau Kollegin, das brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Wir müssen natürlich noch eine Ausschabung machen, aber das wissen Sie auch.« Ich kam mir vor wie ein Tier, wie ein Huhn vielleicht, das vorbereitet wurde, um es dann in den Ofen zu schieben. Gestern hatte die Gynäkologin gesagt, dass ich eigentlich wieder arbeiten könnte. »Ich schreibe Sie noch eine Woche krank, aber eher aus psychischen Gründen denn aus physischen.« Dabei sah sie mich mitleidig an, und ein wenig vorwurfsvoll. Sie war doppelt so alt wie ich, im Alter meiner Mutter, und sie schielte. Ihr linkes Auge irrlichterte in der Gegend herum, und obwohl ich wusste, dass sie nur auf dem anderen Auge etwas sieht, versuchte ich ihr immer wieder in das linke zu schauen.
    Das Sonnenlicht fiel warm in die Küche. Wir hatten die Wände mit einem Schwamm orange gestrichen, und sie leuchteten richtig. Tobias hatte auch alle Fußböden in der Wohnung abgezogen und selber lackiert. Ich setzte mich auf unser Küchensofa, zog die Beine an den Körper und fühlte mich leer. Das war verrückt, ich hatte das Baby in mir gar nicht gespürt, aber diese Leere plötzlich, die konnte ich spüren.
    Es klingelte laut und schrill. Zigmal hatte ich Tobias schon gebeten, eine neue Klingel zu montieren, weil einem dieser Ton durch Mark und Bein ging und ich jedes Mal zu Tode erschrak. Wer sollte das sein? Die Zeugen Jehovas? Die GEZ? Oder der Gasmann? Ich wollte niemanden sehen und öffnete doch die Tür. Davor stand Katharina, Julius’ Mutter.
    Vermutlich habe ich nicht besonders intelligent ausgesehen, als ich sie erkannte. Sie trug ein helles, knielanges Kleid und eine große runde Sonnenbrille. Ihr Kopf war mit einem weißen Tuch bedeckt, dessen lange Zipfel ihr bis auf den Rücken fielen. Ich erkannte sie trotzdem sofort und wusste absurderweise nicht, wie ich sie ansprechen sollte, obwohl ich sie vor Jahren nach anfänglichem Zögern dann doch beim Vornamen genannt hatte. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und das Tageslicht fiel nur spärlich in das Treppenhaus. Das Schummerlicht gab ihrem Kleid und ihrer ganzen Person etwas Leuchtendes. »Kann ich reinkommen?«, fragte sie. Ich nickte und sagte »natürlich« und öffnete die Tür weit. Sie ging durch den Flur direkt auf die Küche zu und drehte sich kurz vor dem Tisch zu mir um. Sie deutete auf einen der Stühle, und ich nickte und sagte: »Ja bitte, setz dich. Willst du was trinken oder irgendwas?«
    Die ersten Monate nach dem Fall der Mauer hatte ich Angst vor dieser Situation gehabt. Obwohl ich mir immer vorgestellt hatte, dass Julius an meiner Tür klingeln und mich fragen würde, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, einfach an dem Tag, an dem er in Westberlin ankam, wieder in den Osten zu verschwinden. Ich sehe das rote Blinken des Anrufbeantworters in Janas Wohnung immer noch vor mir. Sie haben durcheinandergeschrien, Julius und Sascha. »Wir sind in Wien. Wir haben es geschafft. Hört ihr, wir sind draußen. Gleich fahren wir nach München, und morgen fliegen wir nach Westberlin.«
    Zigmal hatte ich mir diese Situation ausgemalt, dass Julius in Rostock vor der Tür steht oder bei meinen Eltern in Neubrandenburg. Habe im Kopf mit ihm geredet, immer wieder erklärt, dass ich mit dieser ganzen Situation nichts zu tun hatte. Dass es nicht meine Idee war. Dass ich keine Verantwortung für diese Flucht trage und schließlich ja auch zurückmusste in den Osten. An genau diesem Tag. Julius wusste selber, wie strikt die DDR in diesen Dingen war. Wer weiß, was mir passiert wäre, wenn ich einen Tag zu spät gekommen wäre. Und meine Mutter war ja auch aus Darmstadt zurückgekommen, am Bahnhof Zoo waren wir verabredet.
    Aber Julius ist nie gekommen. All die Jahre nicht, und ich war ehrlich gesagt nicht böse, weil ich mich ungern an diese ganze Geschichte erinnerte. Dass seine Mutter jetzt nur ein paar Straßen von uns entfernt wohnte, wusste ich, aber was hatte ich schon mit ihr zu tun gehabt? Fast war ich mir sicher, dass sie mich nicht erkennen würde auf der Straße. Wir hatten uns nie getroffen, aber jetzt saß sie vor mir an meinem Küchentisch. Sie nahm die Sonnenbrille ab, und ihre Augen sahen müde aus. Sie hatte dicke Ringe

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