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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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denn es war das Gebrüll der ungemolkenen Kühe, das einen auf der Straße vorbeigehenden Nachbarn herbeiholte), in der Scheune mit einer Mistgabel und einer Schaufel seinen Vater erschlagen und dann in der Küche mit derselben Schaufel, die er zu diesem Zweck aus der Scheune mitgenommen haben musste, seine Mutter.
    Das waren die Tatsachen. Der Traum, soweit er das zu sagen vermochte, enthielt sie, ohne dass sie darin vorkamen. In wachem Zustand waren ihm all diese Informationen über den Mord, den Doppelmord, im Gedächtnis, auch wenn er nicht wusste, wann und wie er an sie gelangt war. Im Traum verstand er nie genau, worum es bei all der Hast und Aufregung ging, er wusste nur, dass er seine Stiefel finden und mit seinem Vater und seinem Bruder hinauslaufen musste (wenn er sich beeilte, so der Traum, würde er nicht zurückgelassen werden). Er wusste nicht, wohin er lief, und erst nach einer ganzen Weile dämmerte ihm, dass da etwas war, was sie finden würden. Sie mochten anfangs leicht und fröhlich vorankommen, aber oft wurden sie von verwirrenden, unsichtbaren Kräften aufgehalten, so dass Mr. Lougheed von den anderen getrennt wurde und sich wiederfand, wie er in seinem Drugstore Rezepturen zusammenstellte oder mit seiner Frau zu Abend aß. Dann erfasste ihn zu spät verzweifeltes Bedauern, und durch vorwurfsvolle, ungefällige Nachbarn und ein ewig graues Wetter, das wenig freigab, versuchte er, dorthin zurückzugelangen, wo er eigentlich sein müsste. Er träumte den Traum nie zu Ende. Oder er erinnerte sich nicht daran. Was wahrscheinlicher war. Als ihn der Traum zum ersten Mal ereilte, waren seine Eltern und seine Schwester schon tot, aber sein Bruder lebte noch, in Winnipeg, und er hatte daran gedacht, ihm zu schreiben, ihn nach Frank McArter zu fragen und ob sie ihn in dieser Nacht tatsächlich gefunden hatten oder nicht. An dieser Stelle war in seinem Gedächtnis eine Lücke. Aber er schrieb ihm nie – oder wenn doch, dann stellte er nie diese Frage, weil er sie vergaß oder sie, falls sie ihm einfiel, zu töricht fand –, und dann starb sein Bruder.
    Dieser Traum bedrückte ihn immer. Er nahm an, das war, weil er für einen Teil des Tages die Toten mit sich herumtrug, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, an deren Gesichter er sich im Wachzustand nicht deutlich erinnern konnte. Wie wollte er jemandem die Festigkeit, Vielschichtigkeit und Wirklichkeit dieser Gestalten vermitteln – falls er jemanden dafür gehabt hätte? Es kam ihm fast so vor, als müsse es einen Ort geben, wo sie sich unabhängig und mit unverminderter Kraft bewegten, außerhalb seines eigenen Kopfes; es war schwer zu glauben, dass er sie selbst hervorgebracht hatte. Eine weit verbreitete Erfahrung. Ihm fiel ein, wie seine Mutter sich an den Frühstückstisch gesetzt und mit erstaunter Stimme, fast im Ton der Beschwerde gesagt hatte: »Ich habe von deiner Großmutter geträumt! Sie war da !«
    Auch machte er sich immer wieder Gedanken über die Unterschiede zwischen jener Zeit und der heutigen. Es waren zu viele. Niemand konnte von einer solchen Zeit in eine völlig andere gelangen, wie hatte er das nur fertiggebracht? Wie konnte ein Mensch Mr. Lougheeds Vater und Mutter kennen und jetzt Rex und Calla? Ihm kam der Gedanke, und das nicht zum ersten Mal, dass vielleicht doch etwas dafür sprach, mit den Dingen so umzugehen, wie die meisten Leute seines Alters es zu tun schienen. Vielleicht war es vernünftig, nichts mehr wahrzunehmen, zu glauben, dass die Welt, in der sie lebten, immer noch dieselbe war, wenn auch mit einigen fürchterlichen, aber heilbaren Fehlbildungen, nie zu verstehen, wie sich die gesamte Ordnung verändert hatte.
    Der Traum brachte ihn mit einer Welt in Berührung, von der die Welt, in der er jetzt lebte, ihm nur ein schwacher Abklatsch zu sein schien – in der Struktur, könnte man sagen, in der Schärfe, im Nachdruck. Es stimmte natürlich, dass seine Sinne nachgelassen hatten. Trotzdem. Das Gewicht des Lebens, seine Wichtigkeit war irgendwie verschwunden. Ereignisse fanden jetzt in einer verkleinerten Landschaft statt und waren von gleicher oder keiner Bedeutung. Bei einer Busfahrt durch Stadtstraßen oder sogar über Land hätte es Mr. Lougheed nicht sehr gewundert, etwas Ausgefallenes zu sehen – eine Moschee zum Beispiel oder einen Eisbären. Wie es auch aussah, am Ende stellte es sich als etwas anderes heraus. Mädchen im Supermarkt trugen Grasröckchen, um Ananas zu verkaufen, und er hatte

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