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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einen Tankwart gesehen, der mit einer Narrenkappe auf dem Kopf Windschutzscheiben putzte. Immer weniger Dinge waren überraschend.
    Manchmal hörte er von den Schallplatten, die sie unten spielten, eine völlig klare, vertraute, unveränderte Melodie, und er wusste, was passieren würde, wie sie verspottet und verdreht werden würde, aufgeputzt und bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen. Überall gab es ähnliche Scherze, und man musste in Betracht ziehen, dass es Leute gab, die sie mochten.

    Der Ross-Point-Pier war eine schon lange nicht mehr benutzte, baufällige Mole, die bei Flut fast völlig verschwand und bei Ebbe am äußersten Ende ins Meer glitt. Mr. Lougheed bog um die Kurve der Uferpromenade – er hatte doch kommen müssen, war zu unruhig gewesen, um fortzubleiben – und erwartete fast, niemanden zu sehen, zu entdecken, dass er sich das Ganze nur eingebildet hatte oder, noch wahrscheinlicher, dass er einem ausgemachten Schelmenstreich aufgesessen war. Aber so war es nicht; viele waren zusammengekommen. Hier war keine Treppe – es gab Stufen eine viertel Meile weiter hinten und noch welche ein Stück weiter vorn, hinter Ross Point –, doch Mr. Lougheed ließ sich die Böschung hinunter, hielt sich an Besenginstersträuchern fest und dachte erst hinterher an die Gefahr von Knochenbrüchen. Er eilte den Strand entlang.
    Die ersten, die er erkannte, rannten die Mole entlang und sprangen von einem ihrer zerborstenen Zementblöcke zum nächsten. Rex und Calla und Rover und mehrere ihrer Freunde, die man nicht voneinander unterscheiden konnte. Calla hatte sich in etwas gehüllt, das aussah wie eine alte Tagesdecke aus Chenille und auch eine war, nur dass sie die meisten ihrer rosa und braunen Noppen eingebüßt hatte. Sie hüpften alle herum, sie planschten barfuß im Wasser. Ein Junge auf dem Strand spielte Flöte oder ein Ding wie eine Flöte, das gleiche, das Eugene hatte – eine Blockflöte. Er spielte gut, wenn auch eintönig. Die beiden alten Schwestern waren da, die blinde hob ihren weißen Stock, während sie sprach, und zeigte damit aufs Wasser. Sie erinnerte einen an Moses am Roten Meer. Die andere redete erklärend auf sie ein. Mr. Clifford und Mr. Morey und einige andere alte Männer hatten sich klugerweise ein wenig weiter weg postiert und plauderten. Insgesamt waren vielleicht drei Dutzend Leute da, alle über sechzig oder unter dreißig. Eugene saß ziemlich weit draußen auf der Mole, ganz allein. Mr. Lougheed hatte gedacht, er würde für diesen Anlass etwas Besonderes anziehen, ein grobes Gewand oder einen Lendenschurz, falls sich so etwas auftreiben ließ, aber er trug wie sonst auch Jeans und ein weißes T-Shirt.
    Einer der alten Männer holte seine Taschenuhr hervor und rief in die Gegend, als redete er niemand Bestimmten an: »Wie ich sehe, ist es zehn Uhr.«
    »Zehn Uhr, Eugene!«, rief Rex, der mit nacktem Oberkörper ins Wasser gesprungen und bis zu den Hüften nass war.
    Eugene wandte allen den Rücken zu, er hatte die Knie angezogen, sein Kopf ruhte auf den Knien.
    »Heilig, heilig, heilig«, tönte Rex, warf den buschigen Kopf in den Nacken und breitete weit die Arme aus.
    »Wir sollten singen«, sagte ein Mädchen.
    Gleichzeitig unterhielten sich vor Mr. Lougheed zwei Damen mit Hut.
    »Ich hätte nicht gedacht, dass so viele kommen.«
    »Ich bin nicht gekommen, um mir etwas Gotteslästerliches anzuhören.«
    Das Mädchen fing an zu singen, im Wettstreit mit dem Blockflötenspieler. Sie wirbelte unsicher auf dem Strand umher, sang ohne Worte, von ihrem Hals flatterte ein Schal in vielen weichen Farben. Nach einem Weilchen davon blickten sich die beiden Damen an, räusperten sich, nickten und begannen mit zittrigen zarten Stimmen, voll schüchterner Entschlossenheit.
    Wir sind hier versammelt, dein Loblied zu singen,
    Auf dass du uns kundtust den Willen dein …
        »Wann geht die Schau endlich los?«, rief Mr. Morey übermütig.
    »Was passiert?«, fragte die blinde Schwester. »Ist er schon auf dem Wasser?«
    Eugene erhob sich und ging weiter auf die Mole hinaus. Ohne Zögern schritt er ins Wasser, das um seine Knöchel schwappte, dann um seine Knie, dann um seine Hüften.
    »Er ist mehr drin als drauf«, sagte Mr. Morey. »Sprich ein Gebet, Junge!«
    Rover hockte sich auf die Steine und begann laut zu tönen: »Om, om, om, om …«
    »Was, was?«, fragte die blinde Schwester, und das tanzende Mädchen unterbrach seinen Singsang lange genug, um mit liebevoller

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