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Was ich dir schon immer sagen wollte

Was ich dir schon immer sagen wollte

Titel: Was ich dir schon immer sagen wollte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einmal zu schlafen.
    Mr. Lougheed klopfte unten an die Tür. Calla kam.
    »Eugene ist nicht zu Hause. Wissen Sie, wo er ist?«
    Calla drehte sich um und rief in das Halbdunkel des Zimmers, das von eingefärbter Bettwäsche und ständig zugezogenen roten und violetten Vorhängen herrührte.
    »Hat wer Eugene gesehen?«
    »Er ist zum Golfplatz gegangen. Nach Osten.«
    »Was wollen Sie denn von ihm?«, fragte Rex freundlich, auf Callas Schulter gelehnt.
    Jemand im Hintergrund rief: »Frag ihn, wie ihm seine Tür gefallen hat.«
    »Frag ihn, wie ihm sein Vogel gefallen hat.«
    Also nicht die Katze. Calla lächelte ihn an. Sie hatte ein breites, liebes, kalkweißes Gesicht, übersät von vielen entzündeten Pickeln.
    »Danke schön«, sagte Mr. Lougheed, ohne auf Rex einzugehen.
    »Was will er denn von diesem Juden-Gen?«, fragte eine andere Stimme aus dem Hintergrund, wahrscheinlich die von Rover mit ihrem blechernen Greinen. Diese Stimme bot eine Mutmaßung an, vor der Mr. Lougheed sofort die Ohren verschloss und die er auch danach nie gehört haben wollte.
    »Fick gefällig?«, fragte Calla.

    Er hielt sich an die Auskunft, ihm blieb nichts anderes übrig. Er machte sich auf den Weg nach Osten, am Meer entlang wie schon am Morgen. An der Mole vorbei, die jetzt menschenleer war, vorbei an dem Café, wo er die Tasse Kaffee getrunken hatte, weiter zum Golfplatz. Es war ein angenehmer Nachmittag, viele Leute waren unterwegs. Manchmal meinte er, Eugene zu sehen. Jeder Zweite der jungen Männer auf der Welt schien Jeans und ein weißes T-Shirt zu tragen, klein und zierlich zu sein und Haare derselben Länge zu haben. Er ertappte sich dabei, dass er den Leuten ins Gesicht sah und sie fragen wollte: »Haben Sie einen jungen Mann gesehen?« Er dachte, vielleicht würde er jemanden treffen, der heute Morgen an der Mole gewesen war. Er hielt nach Mr. Clifford oder Mr. Morey Ausschau. Aber er war zu weit fort, er war außerhalb ihres Reviers.
    Auf der anderen Seite des Golfplatzes erstreckte sich wildes Gestrüpp aus mannshohen Sträuchern. Felsbrocken reichten bis ins Wasser. Kein Strand weit und breit. Das Wasser sah ziemlich tief aus. Ein Mann stand vorn auf den Felsblöcken und hielt eine Drachenschnur. Kleine Boote mit roten und blauen Segeln waren draußen auf dem Wasser. Konnte jemand hier hineinfallen, ohne dass es bemerkt wurde? Konnte jemand sacht hineingleiten, unauffällig, und verschwinden?
    Einige Zeit zuvor, nämlich als er in dem Café saß und seinen Kaffee trank, war ihm etwas eingefallen, eine Szene, die er für das Ende seines Traums hielt. Es war eine deutliche und ausführliche Szene, ohne Anstrengung irgendwo hergeholt – entweder aus dem Traum oder aus seinem Gedächtnis, aber er hielt es für ausgeschlossen, dass sie seinem Gedächtnis entstammte.
    Er ging hinter seinem Vater durch langes graues Gras. Es war grau, denn der Tag brach an und man konnte alles deutlich sehen, aber die Sonne war noch nicht aufgegangen. Sie schienen von den anderen suchenden Männern getrennt worden zu sein. Sie waren an einem Fluss und kletterten bald eine Böschung hoch auf eine Schotterstraße. Die Straße führte zu einer Brücke, die den Fluss überquerte, und Mr. Lougheed, in dieser Szene natürlich ein Kind, rannte auf die Brücke. Er hatte sie etwa zu einem Drittel überquert, bevor ihm auffiel, was für ein unwahrscheinliches und absolut unsicheres Bauwerk sie war. Bretter fehlten im Boden, und die Balken schienen irgendwie zersplittert zu sein, als sei die Brücke ein Spielzeug, auf das jemand getreten war. Er schaute sich nach seinem Vater um, aber der war nicht da; was er nicht anders erwartet hatte. Dann musste er durch den Boden der Brücke, wo eine Bohle fehlte, hinunterschauen, und im seichten Wasser des Flusses, das über weiße Steine floss, sah er den ausgestreckten Körper eines Jungen mit dem Gesicht nach unten. Der in dem Traum, wenn es denn einer war, ein ebenso natürlicher Anblick zu sein schien wie die Steine, auch genauso sauber und weiß.
    Aber jetzt in wachem Zustand konnte er diesen Anblick nicht einfach so hinnehmen, und er fragte sich, ob das Frank McArter war, ob dieser junge Mann sich, nachdem er seine Eltern umgebracht hatte, tatsächlich in den Fluss gestürzt hatte. Es gab keine Möglichkeit, das noch herauszufinden.
    Er hatte einmal etwas erlitten, was, so sagte ihm später der Arzt, ein winziger Schlaganfall gewesen war, in dem eine gezackte, blendend weiße Linie etwa

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