Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
für noch eine. Womöglich wäre er sofort abgefahren, wenn er gewusst hätte, dass dort die Nazis gehurt haben. Wie ich da gestanden habe, in meiner Schiebermütze von Wiechek und den heruntergekommenen Arbeitskleidern, vor meinem schönen sauberen Onkel. Jetzt muss er lachen. Wie er da gestanden und nichts zu sagen gewusst hatte!
Er lauscht, sie sitzt bewegungslos, er hört nur ihren Atem. Dass jemand auch noch atmet im Raum, dass er es hört! So lange bin ich noch da. Wie bemerkt man den Tod? Wie merkt man, dass man nicht eingeschlafen ist, sondern für immer aus der Welt?
Man sieht nichts mehr. Der Tod bringt einen um Fragen, um Antworten, um Bilder. Wie soll er leben können ohne Bilder? Ohne Landschaft, ohne Erinnerung, ohne seine Geschichte? Unsinnige Überlegungen. Nach dem Tod bist du tot, mein Lieber! – Aber wie geht das Nichts? Im Schlaf gibt es immerhin den Traum.
Agota, wie ist das, wenn man tot ist?
Leider empfängt er keine Signale aus dem Jenseits.
Tagtraum, Nachttraum, lange her, gerade geschehen, das macht kaum mehr einen Unterschied. Wenn er wach ist, schon. Er öffnet die Augen, schaut in den hellgelben Zimmerhimmel, der ihn stört, seit er hier ist, ein Himmel ist nicht gelb. Marita sitzt neben ihm. Es ist noch nicht die schwere Nachtstunde erreicht; aber ich habe angefangen vom Ende zu erzählen, denkt er.
Hör auf mit der Angst, sagt er leise.
Bitte? Die kleine Schwester fragt.
Nichts. Sagt er.
Und dann fällt es ihm ein, was ihn an Stani beeindruckt hat, bevor die Angst kam.
Soll ich dir etwas zeigen, die große Freiheit? Habe ich meinen neuen Onkel gefragt. Er sieht sich, Janek, nicht zehnjährig, nein, mehr als zwanzigjährig und doch wie ein Kind. Der Onkel, im Anzug, der sofort mitkommen will. Er wäre mit den guten Schuhen durch den Matsch spaziert, hätte es Leo zugelassen, sagt er, aber der gab ihm die Stiefel von Hanni.
Die passen! Sagte Leo.
Die passten. Wie er, Janek, zählte, bis Stani die Schuhe ausgezogen hatte, wie er zählte, weil er glaubte, es könne in jedem Augenblick etwas passieren, eins, etwas dazwischenkommen, zwei, konkreter, der Onkel wieder weg sein, drei, der Ortsvorsteher ihn abholen, vier, die Strafe käme sicher, fünf, der Galgen, sechs, der Henker, sieben, acht, Paula könnte nicht wieder heimkommen, neun, Fliegeralarm, zehn, elf, zwölf, dreizehn … Die Gedanken überschlugen sich, rannten kreuz und quer und in Haken, und was er fühlte, hatte keinen rechten Sinn; als böge es ihm den Körper in alle Richtungen. Er zählte, neunzehn, bis sich Stanis Anzugshose herrschaftlich in den Stiefelschäften plusterte, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, bis ein erwartungsvolles freundliches Gesicht zu ihm aufschaute und neugierig war, wenigstens bis dreißig. Er hörte auf zu zählen, als der Onkel sagte: Los!
Und er merkte, der hat keine Angst vor dem Dreck, vor dem Matsch und dem fremden modrigen Geruch. Als er ihn hinter sich gehen spürte, fühlte er sich sicher. Wie lange nicht. Das Bild: die weich sich nach unten ausdehnende fruchtbare Wiese, Feuchtland, der Holzzaun am unteren Ende, die Gänse am oberen, die ihnen hinterherschnatterten, aber zusammen blieben, wo sie waren, der Bach, der so viel braunes Wasser trug, dass man ihn sehen konnte durch die Haselbüsche und Buchen hindurch.
Und wie mein Onkel auf den Spalt geschaut hat, als ich ihm den zeigte, »die große Freiheit«, eine Lücke im Zaun, dann auf den kleinen Trampelpfad, der vollends hinunterführte ans Ufer, und dann auf den Bach. Über sein Gesicht war ein Lächeln gehuscht.
Und wohin schwimmt man dann, hat Onkel Stani gefragt.
Ins Meer, ins Meer. Weit. Hat der alte Leo geantwortet.
In den Bodensee, habe ich gesagt. Denn das Meer lag für mich zu Hause.
Paula hat immer gesagt: Der kleine Bach fließt in die Riss, und die Riss in die Donau, und die fließt in den Bodensee. Er schüttelt den Kopf.
Die kleine Schwester lacht.
Die Donau fließt ins Schwarze Meer, sagt Bili ń ski in das Lachen der kleinen Schwester hinein.
Ich weiß. Sagt sie.
Das wissen Sie, fragt er. Und sofort tut es ihm leid.
Sie schaut ihn an, sie schweigt.
Warum sagt er nicht: Es tut mir leid. Warum glaubt er seinem Zweifel mehr als ihr? Er dreht den Kopf weg. Warum erzählt er ihr das alles, wenn er denkt, er habe eine dumme Zuhörerin. Er kennt nur eine Frau, die er für wirklich klug gehalten hat. Agota. Wie viele Frauen kennst du, mein Lieber? Seine Schultern zucken unter seiner Frage zusammen. Paula,
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