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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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Agota. Hannah, was weiß er denn von ihr? Er hat sich nicht viel aus Frauen gemacht. Außer aus Agota. Aus Paula. Sein Körper macht eine unzufriedene Windung. Er hält still. Er kann den Kopf wieder zu Marita drehen. Er sieht, sie hat ihm zugeschaut. Er lächelt milde. Ihr Gesicht schweigt.
    Entschuldigung. Hört er sich sagen.
    Und dann: Mehr war nicht geschehen an diesem Tag. Die Sonne hat sich durch die Wolken geschoben, als wir dort standen, der Onkel und ich am aufgeweichten Ufer des Dorfbachs, schweigend minutenlang, und ich hörte ihn atmen, wie Sie, jetzt, so nah, aber das Dreckwasser sah auch in der Sonne wie Dreckwasser aus.
    Er hat ein Auto, dein Onkel, hat Leo am Abend zu mir gesagt, er ist nicht arm, das sieht man.
    In der Nacht bin ich zu Paula geschlichen.
    Ich habe einen Onkel, hier in Deutschland, habe ich ihr erzählt, und ich sah das Lächeln, das über Paulas Gesicht huschte.
    Dann weißt du ja, wo du hingehen kannst, hat sie gesagt.
    Er wartet auf eine Reaktion der kleinen Schwester. Er zählt Atemzüge, seine. Fünf. Länger hält er es nicht aus.
    Hören Sie mir zu, fragt er.
    Ist das wichtig?
    Ja, sagt Bili ń ski, sehr.
    Ich glaube, es ist Ihnen manchmal egal. Antwortet die kleine Schwester.
    Er schweigt. Er schüttelt den Kopf. Er schaut sie an. Lange. Sie hält seinem Blick stand. Hannah. Er sieht wieder Hannah. Er sieht das junge Mädchen, das Hannahs Augen hat, seine dunklen Augen hat.
    Gut. Sagt die kleine Schwester, sie senkt den Blick, den Kopf, greift kurz und fest nach seinem Handgelenk.
    Ihre Hand ist wütend, sagt Bili ń ski.
    Bitte?
    Sie sind ärgerlich auf mich?
    Sie steht auf, schaut auf die Infusion mit dem Schmerzmittel, bewegt sich wieder um die eigene Achse, ein Mal, wie er es noch nie bei einem anderen Menschen gesehen hat. Wie ein Hund muss er jedes Mal denken. Dann setzt sie sich wieder. Sie gibt keine Antwort.
    Sie erinnern mich an jemanden, sagt er. Als wären Sie ihre kleine Schwester.
    Sie stutzt.
    Er schüttelt den Kopf.
    Paula, sagt er, sie wollte nicht mehr, dass ich bleibe.
    Wie groß der Abstand in dieser Nacht zwischen uns gewesen ist. Seine Hand macht eine Öffnung zur Tür hin, spürt, wie vermessen es ist, eine Entfernung aufzumachen, die nur sein Körper noch weiß.
    Nichts habe ich verstanden, sagt Bili ń ski. Jetzt, wo alles möglich wäre, jetzt willst du nicht mehr, habe ich zu ihr gesagt.
    Und Paula, wie sie mit den Schultern gezuckt hat. Sie hat nicht einmal genickt.
    Es ist nicht so leicht. Das hat sie gesagt.
    Bis heute weiß er nicht, was nicht so leicht war.
    Wann bewertet man sein Leben wie? Wie oft er diesen Satz denkt.
    Ich erzähle Ihnen sentimentales Zeugs, sagt er.
    Bis ich weine, sagt die kleine Schwester.
    Keine Ironie kann er in ihrer Stimme hören, er schaut sie skeptisch an, aber sie schaut ernst. Er weiß, er muss all das erzählen, so als nehme er Anlauf. Seit Wochen der Anlauf. Er erzählte ihr von Agota, fast alles, von seiner Arbeit, den Häusern, dem Garten, den Pflanzen, von Pius, Agotas Sohn in Taipeh, Architekt wie er. Dazwischen ließ ihn die Operation still werden, schlafen, schweigen, in der Enzyklopädie blättern: Gewöhnlicher Fransenenzian, Blauer Tarant, Weiße Schwalbenwurz, Ackerröte, Färbermeister. Müdigkeit. Die kleine Schwester blättern lassen, ihre Fragen beantworten, Elsbeere, kann man die nicht essen? Fetzen von Geschichten in seinem Kopf: Agota, Pius, Werner, sein Freund und das Essen zu dritt, nachdem Agota von ihm wegwollte und zum Glück blieb. Im Tropf die Schmerzmittel, Opiate stärker, Versuche der Erinnerung im Dämmer. Bis es ihm besser ging, die Dosierung der Drogen immer weiter verringert wurde, oder jedenfalls so, dass er wieder alles genau wusste, sich erinnerte und froh war, dass er noch ein wenig Aufschub bekommen hatte. Und doch weiß er, würde er auf sich selbst schauen, von außen, von oben, wie es die kleine Schwester seit Wochen tut, könnte er zuschauen, wie er weniger wird und sein siecher Körper schwächer. Man sieht aus dieser Perspektive aber nicht in den Kopf hinein! Nicht auf seinen Geist, wie der sich sträubt, still zu halten, vom Strom zu gehen, wie er in Bewegung ist, wie es pulsiert in seinem knochigen Schädel. Die Augen offen, geschlossen, offen, geschlossen, die Welt zwar nur ein Krankenzimmer, dessen Himmel und ein Schwesterngesicht, aber was noch darin passierte, das sah man nicht aus der Draufsicht. Warum er sich das immer wieder vorstellte, sich und die kleine

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