Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
schüttelt sich.
Herr Bili ń ski!
Hannah?
Warum schneiden sie ihm so in den Arm? Er hat den Ring doch noch nicht aufgehoben. Er ist im Teig, da ist der Ring, das müssen sie doch sehen, dass der Ring im Tierteig liegt, im weißen Loch, in der Blase ganz oben, wenn die platzt, wenn da hineingestochen wird, kommt der Ring zum Vorschein. Das ist doch Paulas Ring. Warum liegt er auf dem Fußboden. Auf den Tisch damit!
Ist das Hannahs Auge? Er muss schwer atmen, ein Mal, dann wird es leichter.
Herr Bili ń ski!
Jemand rüttelt an ihm.
Sie ist da! – Sie ist es aber nicht. Ihre Augen sind das.
Ja? Fragt die kleine Schwester.
Er ist nass geschwitzt, nass geträumt.
Wie viel Uhr ist es?
Viertel nach zwei. Ich habe die Infusion gewechselt.
Bleiben Sie!
Ja.
Wenn die Träume beginnen, der fiebrige Zustand, wenn zwischen Schlafen und Wachsein nur eine kleine, eine schmale Brücke hin- und herführt, schwankt, unten ein Abgrund, unten der Himmel sogar, und Wörter sich so frei bewegen wie Luftblasen, wenn das Licht grell wird, dann verschwindet, hell, dunkel, wenn die Bilder sich nicht mehr unterscheiden lassen: Erinnerung, Wirklichkeit, Phantasie eins werden, dann weiß er Dinge, die er schon gar nicht mehr gewusst hat. Der Tiermehlfabrikant! Das war doch Hannahs Mann. Die Stunden sind gefährlich, wenn der Schlaf sich über ihn legen will, wenn er zu kämpfen beginnt gegen die schweren Lider, gegen das Absinken, als sei sein Bett ein See, warmes tiefes Wasser, unendlich tief, nichts kommt mehr, er sinkt, sinkt, versinkt: Davor hat er Angst.
Ich will jetzt nicht alleine sein. Sagt er.
Ich weiß. Die kleine Schwester.
Nein, eines stimmt nicht. Es ist nicht seit Wochen der gleiche Kampf, es sind nicht seit Wochen die gleichen langen Stunden zwischen Mitternacht und der beginnenden Dämmerung. Es ist schlimmer geworden. Je mehr er sich in das alte Leben hineinbegibt, desto mühsamer kämpft sein Körper mit der Ermattung. Aber vielleicht ist es auch anders, vielleicht wird er nur immer schwächer. Vielleicht. Wort gestrichen. Es ist so, mein Lieber. Bili ń ski sagt es nicht laut. Er öffnet die Augen. Auf dem Nachttisch steht der gefüllte Wasserbecher, aber er hat keine Kraft, sich hinüberzubeugen. Er muss nichts sagen, sie hat es gesehen.
Bitte, sagt die kleine Schwester, sie reicht ihm das Gefäß.
Es wird nicht besser, sagt er.
Was?
In den Nächten.
Er trinkt, langsam, er möchte spüren, wie die Flüssigkeit ihn erfrischt. Er spürt es aber nicht. Wie ein Tuch liegt die Stille über dem Zimmer. Leichentuch.
Denk das nicht, sagt Bili ń ski leise. Wie ein? Es fällt ihm nichts Passendes ein.
Deshalb will er nicht verbrannt werden: Weil er hinter Agota liegen möchte. Asche ist kein Körper.
Hannah, hört er sich plötzlich sagen.
Herr Bili ń ski? Er sieht, er hat die kleine Schwester erschreckt.
Nichts. Sagt Bili ń ski. Ich weiß schon, wie Sie heißen. Er will grinsen, aber es gelingt ihm wieder nur eine Grimasse.
Er sieht, wie es rumort in ihr.
Er schüttelt den Kopf.
Wer ist Hannah?, fragt die kleine Schwester.
Dafür ist es nun zu spät. Aber warum war noch nie einer darauf gekommen, die ganzen Feld-, Acker- und Wiesen-blumen in einem Gewächshaus zu ziehen, mitsamt der ganzen Hummeln, Bienen, Wespen und Grillen, Heuschrecken, Käfer und Ameisen. Vielleicht gibt es das auch schon. Jedenfalls weiß er nicht, wo. Oder es geht gar nicht. Aber man konnte doch inzwischen jedes Mikroklima herstellen, fast jeden Boden nachbilden, das weiß er. Man könnte die tollsten Gewächshauslandschaften gestalten, mit Arealen aus Blütengewächsen mit Tiernamen: Ochsenzunge, Austernkraut, Natternkopf und Hundzunge, Hundswurz, Igelsame, Schlangenäuglein, Katzenminze, Storchschnabel, Vogelfuß, Spatzenzunge und so weiter, das wäre gar nicht so schwer. Und den ganzen Pflanzen mit Körperteilen im Namen: Finger-Küchenschelle, Fingerkraut, Faltenohr, Ohrblume, Bubiköpfchen, Mannschild, Knorpelmöhre, Augentrost, Zahntrost, Wasserdarm, Hohlzahn, Lungenkraut, Beinwell, Milzkraut und was es noch so alles gibt. Er kann diese Namen auswendig, er hat es der kleinen Schwester bewiesen, indem er die Enzyklopädie schon vor dem Aufzählen der Namen zur Seite gelegt hat.
Sie lacht.
Er hatte es zur Beruhigung zur Hand genommen, sein Blumenbuch; der Schmerz pochte in der Wange, pochte im Bauch. Obwohl das nicht sein konnte. Er bekam doch ausreichend Schmerzmittel. Aber es war so. Die Ameisen liefen unterm linken
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