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Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)

Titel: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Hoffmann
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veränderte, noch bevor ihr Körper von mir wegstrebte.
    So durchdringend konnte ihr Schweigen sein, dass ich es noch heute spüren kann. Eine Starre, fast einer Lähmung gleich, dumpf wirkte ihr Körper, als ich die Frage stellte, bewegungslos das Gesicht plötzlich, wie ich es auch später immer erlebte, wenn Paula nichts sagen wollte, sich in sich selbst verschloss. So war es in dieser Nacht, als ich aus dem Fieber erwacht war, aus den nagenden Träumen, in denen sich Zeiten und Menschen und Welten ineinander verschränkt hatten, übereinandergelegt, wie das nur im Delirium möglich ist, von Angst beherrscht, vom Wissen des Körpers um seine Erschöpfung.
    So ist das, plötzlich ist alles wieder da. Als lägen die Bilder vor ihm, fassbar, fühlbar, lebendig wie die Blumen in seinem Zimmer, der Apfel auf seinem Nachttisch, die Kerze, die er nicht anzünden sollte, aber heimlich doch manchmal entzündete, bis es jemand bemerkte.
    An jenem Abend war das Warten auf Paula, die Sehnsucht unendlich geworden, weil ich mich wieder kräftig gefühlt hatte und gut, seit dem Nachmittag die Augen hatte offen halten können, wollen, und ich sogar dem Alten schon angeboten hatte, ein paar Stiegen Holz zu schlagen.
    Bub, morgen! Das reicht noch.
    An der großen Freiheit hatte sich an der einzigen flachen Stelle eine Handvoll junger Forellen im Nachmittagslicht gesonnt, sie waren erschrocken über meinen Schatten, waren auseinandergeflitzt, wiedergekommen, als ich still saß und die Sonne das immer noch hohe Wasser des Baches durchleuchtete bis zum Grund. Unendlich langsam war die Zeit vergangen am Abend, bis der Schlaf sich über Wiechek gelegt hatte, bis ich ihn ruhig und gleichmäßig atmen gehört hatte und draußen die Tiere still geworden waren. Bis ich mich hatte hinauswagen können. Es war der immer gleiche Vorgang gewesen, ich hatte mich erhoben, war nicht geschlichen, sondern auf bloßen Füßen zur Treppe hinübergegangen, hinab, übern Hof, zum Fenster der Speis, aber dann zur Haustür, nur Diebe klettern durch Fenster, die Tür war nie abgeschlossen. Der Schlaf des Alten, bis drei in der Nacht schlief er tief, dann wurde er unruhig, manchmal wanderte er durchs Haus, schlaflos, bis er wieder ruhig wurde, ließ mir Zeit, ich kannte mich aus mit ihm. So war das geworden, als sich in der Unsicherheit eine Sicherheit einstellte, vielleicht auch so etwas wie Gewohnheit. Aber es war ein anderes Brennen gewesen an diesem Abend, anders als sonst. Nichts Belebendes darin, kein freundliches Glühen, keine glimmende Erregung, nur eine Frage, nur eine Angst: Wer ist dieses tote Kind? Und schließlich dieser wie neue Moment, als ich Paula durchs Dunkel hindurch ahnen konnte, ihren erwartungsvollen Körper, der tagelang nichts hatte von mir wissen wollen. Sie, die sich nicht gezeigt hatte während meines Fiebers, kein einziges Mal ein Zeichen gegeben hatte, begehrte ich so sehr. Und ja, ich hatte es als Vorsichtsmaßnahme gedeutet, hatte keinen Grund gehabt, zu denken, ich sei ihr egal: im Gegenteil. Wäre sie übern Hof gelaufen, hinaufgestiegen unters Dach des Stadels, wo ich mit Wiechek hauste, sie hätte sich verdächtiger nicht machen können. Erst später war mir der Gedanke gekommen: Schon damals hat sie nur genommen!
    Von wem war das Kind? Fragt die kleine Schwester.
    Ich weiß es nicht.
    Aber es war Paulas Kind?
    Sie hat keine Antwort gegeben. Sagt Bili ń ski. Ja, ja, es war Paulas Kind.
    Sie schüttelt den Kopf. Zum ersten Mal schauen sie sich an, seit sie wieder bei ihm sitzt, seit wann eigentlich ist sie wieder da? Er erzählt mit geschlossenen Augen, sein Körper ist eine helle Kammer voller verloschen geglaubter fotografischer Eindrücke. Regen, das Dach der Scheune lässt Licht herein, Wiechek atmet, Bili ń ski geht die Treppe hinab. Paula, er sieht sie, er spürt sie: das Schweigen, so hart, so unüberwindbar, wie es immer gewesen war.
    Paula ist tot. Was bedeutet das? Er fragt es nicht laut, nur sich, er kennt die Antwort schon, er schweigt in den Blick der kleinen Schwester hinein, verliert sich: sieht Hannah, den Pferdeschwanz. Unendlich lange ist das her. Sie muss sechzig Jahre alt sein heute. Er erschrickt.
    Die Augen der kleinen Schwester blicken hellwach, sie will etwas wissen, das sieht er, sie wartet, sie weiß, dass er weitererzählen wird, sie sieht es ihm an.
    Es bedeutet etwas, dass sie tot ist. Sagt er. Paula.
    Hannah, das ist noch kein Name, den sie kennt. Er schluckt, noch einmal schluckt er,

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