Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist: Roman (German Edition)
dich.
Wer sollte mich sprechen wollen? Paula wäre selbst zum Bach gekommen. Der Ortsvorsteher, Breuer? Nein, bei Breuer hätte der Alte mich nicht gerufen, das habe ich gewusst.
Breuer taugt nichts, sagte Leo, hat nichts, kein Herz und keinen Verstand. Nur einen Strohkopf.
Und wenn es doch Breuer war? Es würde mir ja gar nichts anderes übrig bleiben, als mit ihm zu sprechen, mit ihm zu gehen. Wohin? Wer konnte es sich erlauben, den Ortsvorsteher wegzuschicken! Ich trottete über die Wiese, als hinge ich an einem Kälberstrick hinterm Wagen, erblickte von weitem einen gut gekleideten Mann, er trug einen Mantel, und als ich näher kam, sah ich das Hemd und dass er ein Sakko unterm Mantel trug. Ich scheute, ich spürte den Widerstand in meinem Körper: Die holen mich ab! Die haben das herausgefunden mit Paula und mir. Ein Widerwille hat sich mir in die Beine gesetzt, Angst war das, ich wollte stehen bleiben, lieber noch umdrehen, wegrennen. Ich blieb stehen. Wenn sie es nun herausgefunden hatten? Jetzt, wo der Krieg zu Ende war und alles anfangen konnte. Ich haderte mit Paula, weil sie dabei war, mich zu verlassen, aber ich liebte sie doch. Ich sah die schlackernden Füße von Wiechek am Galgen. Meine Muskeln spannten, als wollten sie bersten, ich musste nur loslassen und ich würde wie aufgezogen davonschnellen, die Wiese hinab, über den Bach, drüben die Böschung hinauf, über den Hof vom Sägewerk, über die Straße Richtung Möncherkinnen und weiter und weiter, dachte ich. Und dann, was wäre dann, wohin sollte ich?
Keine Angst, rief der Alte. Er winkte, komm, Bub! Komm!
Dem Alten vertraute ich, ich zitterte zwar, aber ich schaffte es, durchs Gatter in den Hof hinein zu gehen.
Komm, Bub, rief der Alte immer wieder und klang froh. Seine Falten lagen fein um die Augen, die Wangenknochen spitz unter der dünnen Haut, seine Augen lachten. Ich sah, er war sicher, dass der, der vor ihm stand, ein guter Mensch war.
Und ich verstand nicht: Kannte ich diesen Mann, kannten die beiden sich? Nein, aber der wohlgekleidete Mann strahlte mich an, schaute mich an, musterte mich, mich, in den armseligen, abgewetzten Hosen. Dieser feine Mann, wer sollte das sein?
Er hielt inne: Izys Halsband. Braunes Rindsleder, das an einer Stelle gebrochen war, wie der Hals von Izy, wie ihr Rücken. Nur früher schon. Dieses Band, und wie er es, eineinhalb Tage nachdem der Onkel gekommen war, unterm Kopfkissen hervorgezogen hatte beim Packen, wie er daran geschnüffelt hatte wie in so vielen Nächten der fünf Jahre zuvor, und wie er sicher war, Izy noch zu riechen, wie es immer noch nach Hund gerochen hatte, und wie er es zuunterst in den Rucksack steckte, weil was zuunterst lag, am schwersten verloren ging. Und wie er für Wiechek gebetet hatte an dessen Liege. Nun würde er Wiechek verlassen, hatte er gedacht, dabei war der Wiech schon tot gewesen.
Bili ń ski schwieg.
Wer war er, fragt die kleine Schwester, der Mann?
Er konnte von einem Gedanken zum nächsten vollkommen in die Tiefe sinken, irgendwo hinab in seinen Körper, wo es keinen Unterschied mehr gab zwischen innen und außen, zwischen denken und fühlen, zwischen Erinnerung und dem, was gerade geschah, alles geschah jetzt.
Stani, sagt er. Onkel Stani.
Er sucht das Bild.
Ein wenig wie die Mutter hatte Onkel Stani ausgesehen, die lange Nase im eher rundlichen Gesicht, die Haare von nahezu derselben Farbe. Jedenfalls erkannte ich das, als ich bei ihm wohnte und ihn irgendwann zu mögen begann. Vor ihm stehend fragte ich mich nur, woher kenne ich den? Wie klein ich gewesen war, als ich den Onkel zum letzten Mal gesehen hatte. Und wie konnte das sein, dass er mich gefunden hatte? War er es wirklich, meinte er es gut? Was, wenn das doch einer von denen ist, und die wissen, dass ich und Paula … Gespensterfragen klapperten nachts in meinem Kopf herum. Drei Uhr morgens Fragen. Fragen zur Grübelstunde. Misstrauen und Freude mischten sich, als Onkel Stani sich zu erkennen gab, es gibt einen Menschen in Deutschland, der mit mir zu tun hat, mit mir, Janek Bili ń ski. Stellen Sie sich das vor! Sagt er.
Aber, er weiß es noch, es war ein Schrecken auch. Wie sollte es weitergehen mit Paula, wenn ich mit dem Onkel mitging? Und andererseits war es ein Glück: Ich konnte gehen, wenn sie mich nicht will.
Aber ich muss mich nicht heute entscheiden, oder?, habe ich gefragt, vielleicht auch gefleht.
Der Onkel quartierte sich im einzigen Gasthaus in der Gegend ein, für eine Nacht,
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