Was im Dunkeln liegt
Satz, ehe ich ihr die Zeitschrift reichte; dann wartete ich schweigend, bis sie den Artikel gelesen hatte. Als sie fertig war, sah sie mich mit großen Augen an. »Deshalb also«, sagte sie.
»Was?«
»Seit ich hier bin, macht mir der Wald so ein komisches Gefühl – ich kann ihn von meinem Zimmerfenster aus sehen, und manchmal kommt es mir vor, als würde mich irgendetwas dorthin ziehen. Das muss sie sein – Agnes.«
»Jetzt mach mal halblang«, sagte ich. »Bis jetzt hast du das noch nie erwähnt.«
Trudie zuckte die Achseln, als wäre ihr egal, ob ich ihr glaubte oder nicht. »Ich habe es dir doch erzählt – ich habe eine besondere Gabe.« Sie glitt aus dem Zimmer, noch ehe ich etwas erwidern konnte.
Wieder meinem Staubwischen überlassen, wedelte ich
ein paarmal flüchtig um die Bilderrahmen herum, bis mir plötzlich einfiel, dass ich Trudie hätte warnen sollen, sie möge Danny gegenüber den Mord an Agnes Payne besser nicht erwähnen. Ich ging in die Küche, doch die geschälten Kartoffeln lagen schon in ihrem mit Wasser gefüllten Topf, und Trudie hatte sich aus dem Staub gemacht.
Als ich sie im Garten aufspürte, war es bereits zu spät. Nachdem sie mich verlassen hatte, war sie offenbar schnurstracks in die Küche zurückgekehrt, hatte für die Arbeiter eine Kanne Tee aufgebrüht und war damit nach draußen gegangen. Das Haus von Simons Onkel war so altmodisch ausgestattet, dass es keine robusten Becher, sondern nur Tassen mit Untertassen in langweiligem Grün und Weiß gab und ein feines Porzellanservice mit einem Muster aus rosafarbenen Rosen. Letzteres kam mir gefährlich dünn vor, aber natürlich war es das Service, das Trudie für die nachmittägliche Teepause im Garten ausgewählt hatte.
Als ich mich näherte, hörte ich sie sagen: »… und jetzt spukt ihr Geist im Wald herum. Ich glaube, sie wird niemals Frieden finden, solange die Tat nicht gesühnt ist.«
»Das ist nicht mehr sehr wahrscheinlich«, erwiderte Simon. »Wann, sagtest du, ist es passiert – 1912? Das war vor sechzig Jahren! Der Typ wird mittlerweile tot sein.«
»Wenn es ein Typ war«, bemerkte Trudie. »Da ist noch die andere Frau.«
»Sagtest du nicht, sie sei beobachtet worden, wie sie mit einem Mann in den Wald ging?«
»Gut, ja – aber es könnte auch eine als Mann verkleidete Frau gewesen sein.«
»Es könnte ihr Mann gewesen sein, der sich einen falschen Bart angeklebt hat«, sagte ich, während ich mich
ins Gras neben Danny warf, der sich zu mir beugte und mich mit einem Kuss auf die Wange begrüßte.
»Glaube ich nicht«, sagte Trudie. »Ich meine, ihren eigenen Ehemann hätte sie ja wohl erkannt.«
»Ein Grund mehr für sie, mit ihm in den Wald zu gehen.«
»Aber warum der falsche Bart?«
»Warte«, sagte Simon. »Ich hab’s. Was ist mit dem Wilderer? Vielleicht war er es. Und hat dann behauptet, er habe sie mit jemand anderem gesehen, um alle auf die falsche Fährte zu locken.«
»Hausierer«, warf ich ein. »Er war Hausierer.«
Insgeheim war ich einfach nur erleichtert über das eher scherzhafte Interesse, das die Geschichte hervorgerufen hatte – denn bis dahin hatte ich mich an die Vermeidenvon-bestimmten-Themen-Devise gehalten. Ich war nicht gerade auf den Spuren des speziellen Tons gewandelt, hatte aber sorgsam darauf geachtet, weder plötzliche Todesfälle noch den Timmins-Preis zu erwähnen. Vermutlich war ich übervorsichtig, doch die Umstände von Dannys Preisverleihung waren von einer Tragödie überschattet gewesen, und ich spürte, wie unangenehm ihm das war. Der Preis wurde von der Fakultät jährlich an einen Geografiestudenten verliehen, der in den Examina, die die Mitte des Studiengangs markierten, die höchste Punktzahl erreicht hatte. In der Endphase der Prüfungen war allgemein bekannt gewesen, dass in diesem Jahr nur zwei Studenten ernsthaft im Rennen waren – Danny Ivanisovic und ein Mädchen namens Rachel Hewitt.
Rachel Hewitt war ein wahres Glückskind: diese seltene Mischung aus analytischem Verstand und freundlichem Wesen – beliebt, lebhaft, klug. Als sie eines Montagmorgens
nicht in der Vorlesung erschien, waren alle überrascht, aber nicht übermäßig beunruhigt. Rachel hatte erwähnt, sie spiele mit dem Gedanken, am Wochenende zu ihren Eltern zu fahren, und als Freunde an ihre Tür im Studentenwohnheim klopften und keine Antwort erhielten, nahmen sie an, sie habe nach dem Besuch am Sonntagabend ihren Zug zurück verpasst.
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