Was im Leben zählt
sicher», sage ich, und es stimmt. Vielleicht irgendwann, vielleicht schon bald, vielleicht eher, als ich es mir momentan vorstellen kann. Jetzt jedoch bleibe ich einfach auf der Veranda stehen und sehe ihr nach. Die eisige Luft dringt durch meinen Schlafanzug, füllt meine Lunge, zupft an meinem freigelegten Nacken. Ich bleibe noch lange regungslos stehen, die Rücklichter des Wagens sind die Straße hinunter verschwunden, und irgendwann setze ich mich auf die Verandaschaukel. In all den Jahren, die diese Schaukel uns begleitet hat, habe ich mich noch nie im Winter daraufgesetzt. Also sitze ich hier und bewundere die Aussicht, trotz fast tauber Finger, trotz knallroter Wangen. Ich schaukle und schaukle, nehme die Stille des Abends in mich auf an dem einzigen Ort, den ich je als mein Zuhause betrachtet habe, in dem Bewusstsein, wie wunderbar es ist, hier draußen sein zu können, ein lebendiges, fühlendes Wesen, das seine alte Welt mit neuen Augen betrachtet.
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Einunddreißig
W as für ein wunderbarer Anblick! Mein erster Gedanke gilt dem Triumphbogen, als ich am Eingang zur Turnhalle stehe. Natürlich habe ich ihn auch vorher schon gesehen, während meiner Visionen. Ich habe übrigens bis jetzt keine mehr gehabt, und laut Ashley ist es gut möglich, dass es auch so bleibt, weil ich inzwischen gelernt habe, sie zu beherrschen anstatt umgekehrt. Trotzdem ist der falsche Triumphbogen im echten Leben viel majestätischer und edler, als ich es je zu hoffen gewagt hätte. Das Prom-Komitee, dessen Vorsitz ich persönlich nur noch am Ende geleitet habe, hat sich selbst übertroffen. Miniatur-Eiffeltürme baumeln von der Decke; über die Wände ziehen tanzende Lichtkreise. Die Stadt der Lichter. Mitten in Westlake.
Ich bleibe vor den Schwingtüren zur Turnhalle stehen, ehe ich hineingehe, ehe ich die Schwelle überschreite. Es ist die allererste Prom Night überhaupt, die ich allein besuche. Dieser Umstand ist mir heute Abend nicht aus dem Kopf gegangen, während ich mich umgezogen, die seidenen Schulterriemchen befestigt habe, die Finger sanft über das nackte Schlüsselbein habe streifen lassen, vor dem Spiegel zurückgetreten bin, der früher auch Tylers Spiegel war und den ich jetzt allein ausfülle.
Ich habe mir im Internet ein neues Kleid bestellt. Es überschreitet mein Budget, aber das ist mir egal. Es ist dunkelrot und erinnert mich an die Farbe der Blätter zu der Jahreszeit, als meine Mutter starb, aber auf warme, tröstliche Weise, und als ich beim Surfen darauf gestoßen bin, während eines kleinen Umwegs auf der Suche nach Studiengängen, wusste ich gleich, dass es perfekt ist. Perfekt für meine nun schmalere Figur, die dank des zurückgekehrten Appetits und der Bierabende mit Susanna und Ashley sowieso bald wieder dahin sein wird; perfekt, weil ich nicht weiß, wann ich noch mal die Gelegenheit haben werde, mich mit der Begeisterung einer Sechzehnjährigen in Schale zu werfen, die endlich weise genug ist, dankbar dafür zu sein, dass sie keine sechzehn mehr ist. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, eins von den alten Kleidern in meinem Schrank anzuziehen, eines von denen, die ich vorher getragen habe. Vorher. Inzwischen ist alles entweder vorher oder danach. Ich entschied mich für danach. Die unsichere Variante, das steht fest, aber gleichzeitig diejenige, die ein Fenster für neue Möglichkeiten aufstößt.
Ehe ich mich auf den Weg machte, schaute ich bei Darcy rein, um mich zu präsentieren, doch meine Pirouette blieb unbeachtet, denn sie schlief, eine wohlverdiente, tiefe Ruhepause, und ich ließ es gut sein.
Zwischen uns hat sich ein gleichmäßiges Muster eingespielt. Ihre Hände sind noch nicht wieder voll funktionstüchtig, aber sie sind auf dem besten Weg, genau wie Darcy selbst. Die Demobänder, die sie mit Dante geschnitten hat, haben das Interesse gleich mehrerer großer Produzenten erregt, und der Tag, an dem Darcy ihnen persönlich wird vorspielen können, ist nicht mehr allzu weit entfernt. Dann werden die beiden zusammen wegfliegen, fort aus Westlake, helleren Himmeln und unverbrauchten Träumen entgegen, sie werden sich weigern, in Deckung zu gehen, angesichts von allem, was war, nach allem, was war. Danach.
«Schon komisch, oder?», sagte sie eines Abends zu mir, als wir ihre Therapieübungen durcharbeiteten. «Ich dachte immer, ich wäre mehr der Solo-Act, aber wie sich rausstellt, bin ich wohl doch eher für ein Duo geeignet.» Ich lachte mit ihr, zumal
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