Was im Leben zählt
Schatten.
«Ich weiß nicht, wer ich ohne dich bin.» Die Autotür fällt zu, und ich rase die Straße hinunter, zu Darcy. Vielleicht weiß ich es ja doch.
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Dreißig
A m nächsten Nachmittag finden sich Ashley und Susanna in meiner Küche ein. Darcy liegt nebenan im Gästezimmer und schläft. Man kann es inzwischen im Grunde nicht mehr als Gästezimmer bezeichnen, eher als ihr dauerhaftes Zimmer, zumindest so dauerhaft, wie bei Darcy jemals etwas dauerhaft sein kann. Tyler ist weg, war weg, als ich gestern aus dem Krankenhaus zurückgekommen bin. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass er sich meldet, sobald er in Seattle ist, und das wird er wahrscheinlich auch machen, und es ist okay. Aber ich werde weder neben dem Telefon sitzen noch alle fünf Minuten meine E-Mails checken, falls er es doch nicht tut. Und auch das ist okay. Da draußen ist das Leben, und zwar nachher und vorher, und es ist höchste Zeit, sich diesem Leben zu stellen.
Ashley legt mir ein Handtuch um die Schultern und steckt es im Rücken fest. Ich sitze auf dem alten Esszimmerstuhl meiner Mutter.
Es ist erst fünfzehn Uhr, aber wir trinken trotzdem Cabernet, weil mir nach Feiern zumute ist. Ashley folgte meinem Ruf mit Freuden; sie hat den Großteil der letzten Woche damit verbracht, die Dinge ihrer Mutter zu sortieren. Sie war fast durch und wusste nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte.
«Ich meine, was soll ich denn jetzt tun?», fragt sie, die Schere in der einen und das Weinglas in der anderen Hand. «Ich habe so lange nichts anderes mehr getan, als sie zu pflegen, dass ich das Gefühl habe, dass ich gar nichts anderes mehr kann.»
«Das findest du schon heraus», sage ich, weil ich es nachempfinden kann und weil ich es ihr zutraue. Man mag Ashley Simmons ja viel nachsagen, aber sicher nicht, dass sie in Zeiten der Not den Kopf in den Sand steckt. Das weiß ich inzwischen; und ich bewundere sie dafür.
«Ich muss gestehen, dass ich etwas aus der Übung bin», sagt sie, stellt das Glas ab und lässt die Finger durch meine weiche blonde Mähne gleiten. «Bist du dir sicher?»
«Ja.» Ich nicke. «Wisst ihr, ich möchte wirklich was ganz Neues ausprobieren. Wieso auch nicht? Außerdem wächst es ja wieder.» Ich muss an Darcys zwei Zehen denken, die nicht mehr nachwachsen, und dann daran, dass sie mir bereits verziehen hat, mehr noch, mich von vornherein nicht verantwortlich gemacht hat, auch wenn ich weiß, dass ich es bin. Aber ich weiß auch, dass ich mich daran nicht für immer festhalten kann. Denn Schuldgefühle sind nichts anderes als ein Gefängnis, das uns davon abhält, das zu tun, was wir wirklich tun möchten. Was uns wirklich glücklich macht. Also versuche ich loszulassen, mich von einigem Ballast aus meiner Vergangenheit zu befreien.
«Okay. Los geht’s. Aber ich bin nicht schuld, wenn es dir nicht gefällt», sagt Ashley. «Ich habe meine Prüfung ungefähr drei Jahre nach der High School gemacht!» Wir müssen alle lachen, weil sich das anfühlt wie vor einer halben Ewigkeit.
«Ich muss es tun», sage ich, weil ich es tun muss. Mir ist klargeworden, dass ich zwar die Zukunft nicht ändern kann, die Umstände aber sehr wohl dieser Zukunft anpassen kann, um meinen Hoffnungen und Wünschen Nahrung zu geben. Ich saß auf den Rängen und sehnte mich danach, die Frau zu sein, die in der Prom Night unter der Disco-Kugel in Elis Armen tanzte, und wer, bitte schön, behauptet, dass ich es nicht doch sein könnte?
Ashley fängt mit den Nackenhaaren an, sie schnippt und schnappt und schneidet, Strähne für Strähne, gründlich und exakt, wie ein Künstler, der eine Skulptur formt. Ich halte den Blick starr auf den Küchenfußboden gerichtet, wo sich die Strähnen häufen, und bin erstaunt, wie leicht ich mich jetzt schon fühle, wie lange ich die blonde Cheerleaderin mit ihrem Ehemann, dem Star-Shortstop, gewesen bin und wie verzweifelt ich mich danach sehne, endlich einem anderen Bild zu entsprechen.
Ich habe Susanna die Nikon in die Hand gedrückt und sie mit der Dokumentation betraut – sie ist zwar kein Profi, aber für ein bisschen Scharfstellen und Drauflosknipsen wird es schon reichen – weil ich diesen Tag festhalten will, aktenkundig machen, für immer, den Tag meiner Häutung.
Als Ashley fertig ist, lasse ich behutsam die Finger über den freigelegten Nacken gleiten. Ich fühle mich entblößt, unsicher, aber auch aufgeregt, beschwingt, vielleicht so, wie Darcy sich fühlt,
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