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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Allgemeinen blieben die amerikanischen Studenten aber politisch gemäßigter als ihre westdeutschen, italienischen oder französischen Kommilitonen. Marxismus, Sozialismus und Revolutionssehnsucht spielten eine wesentlich geringere Rolle auch dort, wo eine Wurzel ihrer Organisationen in der Arbeiterbewegung lag. Der deutsche SDS war der «Sozialistische deutsche Studentenbund», der amerikanische SDS waren die «Students for a Democratic Society». So nannten sie sich seit 1960, als sie den aus der sozialistischen Tradition stammenden Namen «Student League for Industrial Democracy» bewusst ablegten. Im Juni 1962 beschlossen sie das nach dem Versammlungsort in Michigan benannte «Port Huron Statement», das ihr Präsident Tom Hayden maßgeblich formuliert hatte. Von irgendwelchen Ideologien ist dieser Aufruf vollkommen frei; man liest vielmehr einen emphatischen Aufruf zu einer Erneuerung der Demokratie, die «apathisch», «manipuliert», «im Verfall» sei, statt noch dem Lincolnschen Maßstab des «of, by, for the people» zu entsprechen.
    Dahinter steckte wie auch sonst im Studentenprotest der 60er Jahre ein generationelles Motiv, die Unzufriedenheit des Aufwachsens in einem Amerika der Paradoxe, geprägt von Wohlstand und Ungleichheit, von Kaltem Krieg nach außen und Kampf um Bürgerrechte im Innern. Die Perspektive der Zukunft richtete sich jedoch nicht auf einen revolutionären Umsturz des «Systems», weder des Kapitalismus noch der parlamentarischen Demokratie. Im Zentrum der Änderungen müsse vielmehr die individuelle Selbstentfaltung der Menschen stehen. Hayden beschwor einen Individualismus in der Gemeinschaft, der an John Dewey erinnerte und nur von Ferne neomarxistische Theorien der «Entfremdung» anklingen ließ. Individuen sollten weder der Tradition folgen noch ihr Verhalten durch Konformität nach außen bestimmen lassen, sondern sich auf ihren inneren Kompass besinnen. Das war die Kernbotschaft des auch im Europa der 50er und 60er Jahre vielgelesenen Buches des amerikanischen Soziologen David Riesman über die «Einsame Masse». Als «self-direction» nahmen die Studenten des SDS das auf. Aber sie blieben nicht bei der Forderung nach individueller Selbstbestimmung stehen, sondern leiteten daraus einen neuen Typus der Demokratie ab. Die Menschen müssten unmittelbaren Anteil an den Entscheidungen nehmen, die ihre konkrete Lebensführung und Lebensqualität bestimmen. Hayden nannte das 1962 «partizipatorischeDemokratie». In ihr sollten individuelle Kreativität und Expressivität auf neue Weise zum Ausdruck kommen, aber auch neue Formen der Aushandlung politischer Entscheidungen gefunden werden, die freilich noch vage blieben. Den Impuls zur Dezentralisierung und zur Einbeziehung von Interessengruppen und unmittelbar Betroffenen konnte man aber schon heraushören.
    Mitte der 60er Jahre schwappten die Studentenproteste auch nach Europa, mit einem frühen Zentrum seit 1964/65 an der Freien Universität Berlin, aber ihren Höhepunkt erreichten sie überall erst 1967 und 1968. Besonders schnell spitzten sich die Ereignisse in Frankreich zu, wo die Bewegung Ende 1967 an der Vorort-Universität Nanterre ihren Anfang nahm, dann aber innerhalb weniger Monate im Mai 1968 in einen gewaltsamen Aufstand mit heftigen Straßenkämpfen im Zentrum von Paris, rund um die Sorbonne, führte. Nirgendwo sonst erschütterten die Proteste das politische System der westlichen Demokratien so tief wie in Frankreich. Die gerade erst zehn Jahre alte Fünfte Republik geriet ins Wanken; Präsident Charles de Gaulle verließ am 29. Mai das Land, gewann dann aber bald die Kontrolle zurück; die Wahlen am 23.Juni stärkten die Konservativen und erteilten der Revolution eine Absage. Selbst in Frankreich, wo die Studenten (wie teilweise auch in Italien) zeitweise Teile der Industriearbeiterschaft, etwa Automobilarbeiter bei Renault, auf ihre Seite ziehen und ein antikapitalistisches Protestbündnis schmieden konnten, unterstützte eine große Mehrheit der Bevölkerung die Bewegung nicht.
    Das lag auch daran, dass die Zielvorstellungen der linken Studenten unklar blieben. Bei aller Versiertheit in den Theorien von Marx oder Trotzki fehlte eine institutionelle Alternative zur liberal-parlamentarischen Demokratie. Die grandiose revolutionäre Rhetorik überdeckte das zum Teil; gleichzeitig

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